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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 330Gesäß]), ist in ihrem Gesicht wundervoll die Sterbensqual der Wollust erfaßt. Es hat mir auchnoch manches andere gefallen, aber ich mag nicht über alles schreiben.[559] Ich fahre nach Paris und weiß im voraus, daß ich mich dort langweilen werde. Dabeihab’ ich aber auch, weiß der Teufel, was für ein Glück! Vor meiner Abreise aus Petersburgwar von nichts anderem zu hören als von der Diebsbande mit Trischatny und Dobryschin ander Spitze 1 , bei meiner Ankunft in Paris wird von nichts andrem zu hören sein als von demDieb Teste 2 und andern Dieben aus der Zahl der konstitutionellen Minister, die der DiebEmile Girardin erst verdächtigt, aber noch nicht überführt hat. O tempora! O mores! * Oneunzehntes Jahrhundert! O Frankreich – Land der Schmach und der Erniedrigung! Sein Antlitzist jetzt der Spucknapf für alle europäischen Staaten. Nur wer zu faul ist, gibt ihm keineOhrfeige. Neulich war es die portugiesische Intervention, und bald ist, sagt man, eine schweizerischean der Reihe, die Frankreich noch mehr Ehre einbringen wird als die erste.Ich habe das Buch Louis Blancs 3 gelesen. Diesem Mann hat die Natur weder Kopf noch Herzversagt; aber er wollte sie aus eignen Mitteln größer machen – und dabei ist statt eines bedeutendenKopfs und eines großen Herzens ein Wasserkopf und ein aufgeschwemmtes Herz herausgekommen.Sein Buch enthält viel Brauchbares und Interessantes: es hätte ein außerordentlichgutes Buch werden können; aber der kleine Blanc hat es fertiggebracht, ein höchstlangweiliges und höchst banales Buch daraus zu machen. Ludwig XIV. hat, siehst Du wohl!,das monarchische Prinzip herabgewürdigt, indem er in Frankreich die Kirche von Romemanzipierte! O dies Roß! Die Bourgeoisie ist bei ihm seit Erschaffung der Welt der Feindder Menschheit und konspiriert gegen ihr Wohlergehen, während doch aus seinem eignenBuch hervorgeht, daß es ohne sie nicht zu der Revolution gekommen wäre, von der er so begeistertist, und daß ihre Erfolge ihre legitimen Errungenschaften sind. Uff, wie blöd – nichtauszuhalten! Jetzt lese ich Lamartinechen 4 und begreife nicht, warum er auf einer Seite klugeund gut formulierte Dinge über ein Ereignis sagt und sich dann beeilt, auf einer anderenDummheiten daherzuplappern, die dem bereits Gesagten offenkundig widersprechen – obdeshalb, weil er bloß zur Hälfte gescheit ist oder weil er hofft, irgendwann mal Minister zuwerden, und es deshalb allen Parteien recht machen will. Ich hab’ sie bis dahin, diese Schurken:ich weine vor Langerweile und Ärger, und lese doch!Mit meiner Kur bin ich fertig, und es geht mir ein bißchen besser. Wie es heißt, wirkt aberdas Heilwasser auf viele erst wesentlich [560] später, nach der Trinkkur; ich hoffe, es wirdmir noch besser gehn. Jedenfalls werde ich gleich bei meiner Ankunft in Paris den berühmtenTirat de Malmort aufsuchen.Meine Frau hat mir geschrieben, daß Krajewski in Moskau ist und bei Dir Wohnung genommenhat. Herzlichen Glückwunsch zu dem neuen Freund! Einen Freund auf Erden finden, isteine große Sache, wie Schiller mehr als einmal so schön gesagt hat, besonders einen Freundmit gefühlvollem Herzen, mit einem Wort, so einen wie A. A. Krajewski. Es heißt, die Affä-1 Belinski spielt hier auf die großen Unterschlagungen und Diebstähle an, die im Militärdepartement aufgedecktworden waren, wo eine „Diebsbande“, mit General Trischatny, dem Chef der Heeresreserven, an der Spitze, ihrUnwesen trieb.2 Jean-Baptiste Teste (1780-1852) – französischer Minister der öffentlichen Arbeiten und später Vorsitzenderdes Kassationshofs. Er wurde wegen Bestechungen vor Gericht gestellt und verurteilt.* „O (was für) Zeiten, o (was für) Sitten!“3 Mit dem „Buch Louis Blancs“ ist dessen „Geschich d Französischen Revolution“ gemeint, die 1847 zu erscheinenbegann.4 „Jetzt lese ich Lamartinechen“ – diese Ausdrucksweise zeigt die Geringschätzung Lamartines durch Belinski,der damals die 1847 erschienene achtbändige „Geschichte der Girondisten“ las. In diesem Werk entstellte Lamartinetendenziös die geschichtlichen Tatsachen, um die Girondisten zu verherrlichen und die Jakobiner mitSchmutz zu bewerfen.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 331ren dieses Vampirs, der mir den letzten Rest Gesundheit ausgesaugt hat, stehn schlecht, undalle Welt läßt ihn im Stich. Wenn das stimmt, bin ich froh, denn ich wünsche ihm von ganzemHerzen das Allerärgste, alles erdenkliche Unheil. Leb wohl, Botkin. Grüß mir all dieUnsrigen – Kawelin, Granowski, Korsch, Ketscher, Schtschepkin usw. usw.An W. P. Botkin, Dezember 1847(Bruchstück)W. B.St. Petersburg, Dezember 1847Jetzt über die Briefe Herzens 1 . Der Eindruck, den sie bei Korsch, Granowski, Dir und andernMoskauern hinterlassen haben, zeigt mir nur, daß es Euch Moskauern an jener Toleranz fehlt,die Ihr für Eure Haupttugend haltet. In Deinem Urteil sehe ich wirklich noch etwas, was nachToleranz aussieht: Du bist wenigstens nicht böse auf die Briefe, weil sie nicht auf Deine Weisedenken, sondern auf ihre eigne, Du wirst nicht rot vor Ärger wie Korsch und nennst nichtUnfug, was man richtiger als Scherz, Witz, Freisein von Pedanterie und Schulmeisterei bezeichnenmuß. Du hast nach meiner Meinung nur insofern nicht recht, als Du an einer Auffassungund Meinung, die der Deinen widerspricht, nichts Gutes lassen wolltest. Diese Briefe,besonders der letzte, wurden in meiner Gegenwart, unter meinen Augen geschrieben, alsFolge jener täglichen Eindrücke, über die alle ehrlichen Franzosen erröteten und die Köpfehängen ließen und bei denen selbst die Schufte etwas verlegen mit den Augen zwinkerten.Und wenn Herzens Briefe wirklich Übertreibungen enthalten – mein Gott –‚ was ist dasschon für ein Verbrechen [561] – und wo gibt’s Vollkommenheit? Wo absolute Wahrheit?Herzens Ansichten aber für unbestreitbar falsch und nicht einmal einer Entgegnung für würdigzu halten – ich weiß nicht, meine Herren, vielleicht habt Ihr sogar recht, aber dann bin icheben wohl zu dumm, um Euch in Eurer Weisheit zu verstehen. Ich will nicht sagen, daß HerzensAnsichten fehlerlos richtig sind, daß sie alle Seiten der Frage erfassen, ich räume ein,daß die Frage der Bourgeoisie noch offen ist und bisher noch niemand sie endgültig entschiedenhat und niemand sie entscheiden wird – entscheiden wird sie die Geschichte, dieses obersteGericht über die Menschen. Aber ich weiß, daß die Herrschaft der Kapitalisten das heutigeFrankreich mit ewiger Schmach bedeckt und die Erinnerung an die Zeiten der Regentschaftheraufbeschworen hat, die Amtszeit Dubois’, der Frankreich an England verkaufte,und daß sie eine Orgie der Industrie entfesselt hat. Alles an dieser Herrschaft ist kleinlich,nichtswürdig, widerspruchsvoll; kein Gefühl für Nationalehre, Nationalstolz. Sieh Dir dieLiteratur an – was soll das bedeuten? Alles, worin auch nur ein Funke von Leben und Talentblitzt, all das gehört zur Opposition – nicht zu der lausigen Parlamentsopposition, die natürlichsogar tief unter der konservativen Partei steht, sondern zu jener Opposition, für die dieBourgeoisie das Syphilisgeschwür am Körper Frankreichs ist. Viel dummes Zeug steckt inden Bannflüchen, die sie gegen die Bourgeoisie schleudert – dafür aber zeigen sich nur indiesen Bannflüchen sowohl Leben wie Talent. Sieh zu, was sich in den Pariser Theatern tut.Die kluge, sorgfältige Inszenierung, das ausgezeichnete Spiel der Schauspieler, die Grazieund der Scharfsinn des französischen Geistes überdecken hier Leere, Nichtigkeit, Banalität.Die Kunst macht sich nur in der Rachel und in Racine bemerkbar, höchstens erinnert an siehin und wieder durch seine „Lumpenhändler“ mit Hilfe Lemaitres ein Félix Pyat, ein völligtalentloser Mann, der es aber kraft (à force) seines Hasses gegen die Bourgeoisie zu Talentbringt. Herzen hat nicht gesagt, daß die französischen Staatsanwälte Narren und Dummköpfe1 Es handelt sich um die „Briefe aus der Avenue Marigny“ von A. I. Herzen. Diese Briefe entstanden in denMonaten Juli bis September 1847 in Paris zu der Zeit, als sich Belinski im Ausland aufhielt.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 330Gesäß]), ist in ihrem Gesicht wundervoll die Sterbensqual der Wollust erfaßt. Es hat mir auchnoch manches andere gefallen, aber ich mag nicht über alles schreiben.[559] Ich fahre nach Paris und weiß im voraus, daß ich mich dort langweilen werde. Dabeihab’ ich aber auch, weiß der Teufel, was für ein Glück! Vor meiner Abreise aus Petersburgwar von nichts anderem zu hören als von der Diebsbande mit Trischatny und Dobryschin ander Spitze 1 , bei meiner Ankunft in Paris wird von nichts andrem zu hören sein als von demDieb Teste 2 und andern Dieben aus der Zahl der konstitutionellen Minister, die der DiebEmile Girardin erst verdächtigt, aber noch nicht überführt hat. O tempora! O mores! * Oneunzehntes Jahrhundert! O Frankreich – Land der Schmach und der Erniedrigung! Sein Antlitzist jetzt der Spucknapf für alle europäischen Staaten. Nur wer zu faul ist, gibt ihm keineOhrfeige. Neulich war es die portugiesische Intervention, und bald ist, sagt man, eine schweizerischean der Reihe, die Frankreich noch mehr Ehre einbringen wird als die erste.Ich habe das Buch Louis Blancs 3 gelesen. Diesem Mann hat die Natur weder Kopf noch Herzversagt; aber er wollte sie aus eignen Mitteln größer machen – und dabei ist statt eines bedeutendenKopfs und eines großen Herzens ein Wasserkopf und ein aufgeschwemmtes Herz herausgekommen.Sein Buch enthält viel Brauchbares und Interessantes: es hätte ein außerordentlichgutes Buch werden können; aber der kleine Blanc hat es fertiggebracht, ein höchstlangweiliges und höchst banales Buch daraus zu machen. Ludwig XIV. hat, siehst Du wohl!,das monarchische Prinzip herabgewürdigt, indem er in Frankreich die Kirche von Romemanzipierte! O dies Roß! Die Bourgeoisie ist bei ihm seit Erschaffung der Welt der Feindder Menschheit und konspiriert gegen ihr Wohlergehen, während doch aus seinem eignenBuch hervorgeht, daß es ohne sie nicht zu der Revolution gekommen wäre, von der er so begeistertist, und daß ihre Erfolge ihre legitimen Errungenschaften sind. Uff, wie blöd – nichtauszuhalten! Jetzt lese ich Lamartinechen 4 und begreife nicht, warum er auf einer Seite klugeund gut formulierte Dinge über ein Ereignis sagt und sich dann beeilt, auf einer anderenDummheiten daherzuplappern, die dem bereits Gesagten offenkundig widersprechen – obdeshalb, weil er bloß zur Hälfte gescheit ist oder weil er hofft, irgendwann mal Minister zuwerden, und es deshalb allen Parteien recht machen will. Ich hab’ sie bis dahin, diese Schurken:ich weine vor Langerweile und Ärger, und lese doch!Mit meiner Kur bin ich fertig, und es geht mir ein bißchen besser. Wie es heißt, wirkt aberdas Heilwasser auf viele erst wesentlich [560] später, nach der Trinkkur; ich hoffe, es wirdmir noch besser gehn. Jedenfalls werde ich gleich bei meiner Ankunft in Paris den berühmtenTirat de Malmort aufsuchen.Meine Frau hat mir geschrieben, daß Krajewski in Moskau ist und bei Dir Wohnung genommenhat. Herzlichen Glückwunsch zu dem neuen Freund! Einen Freund auf Erden finden, isteine große Sache, wie Schiller mehr als einmal so schön gesagt hat, besonders einen Freundmit gefühlvollem Herzen, mit einem Wort, so einen wie A. A. Krajewski. Es heißt, die Affä-1 Belinski spielt hier auf die großen Unterschlagungen und Diebstähle an, die im Militärdepartement aufgedecktworden waren, wo eine „Diebsbande“, mit General Trischatny, dem Chef der Heeresreserven, an der Spitze, ihrUnwesen trieb.2 Jean-Baptiste Teste (1780-1852) – französischer Minister der öffentlichen Arbeiten und später Vorsitzenderdes Kassationshofs. Er wurde wegen Bestechungen vor Gericht gestellt und verurteilt.* „O (was für) Zeiten, o (was für) Sitten!“3 Mit dem „Buch Louis Blancs“ ist dessen „Geschich d Französischen Revolution“ gemeint, die 1847 zu erscheinenbegann.4 „Jetzt lese ich Lamartinechen“ – diese Ausdrucksweise zeigt die Geringschätzung Lamartines durch Belinski,der damals die 1847 erschienene achtbändige „Geschichte der Girondisten“ las. In diesem Werk entstellte Lamartinetendenziös die geschichtlichen Tatsachen, um die Girondisten zu verherrlichen und die Jakobiner mitSchmutz zu bewerfen.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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