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13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 32senden“? Wir erfahren größtenteils, wo er dinierte, wo er soupierte, welche Speisen man ihmvorsetzte und wieviel der Wirt ihm abnahm, wir erfahren, daß Herr B... hinter Frau N... herwar und daß das Eichkätzchen ihm die Nase zerkratzte; wie die Sonne über einem SchweizerDörfchen aufging, aus dem ein Hirtenmädchen mit einem Rosenstrauß am Busen eine Kuhauf die Weide trieb... Lohnte es sich, deswegen so weite Reisen zu machen? ... Man vergleichein dieser Hinsicht [54] die „Briefe eines russischen Reisenden“ mit den früher geschriebenen„Briefen an einen Würdenträger“ von Fonwisin: welch ein Unterschied! Karamsin istmit vielen berühmten Männern Deutschlands zusammengetroffen, und was hat er aus denGesprächen mit ihnen erfahren? Daß sie alle biedere Leute sind, die sich eines ruhigen Gewissensund ungetrübten Geistes erfreuen. Und wie anspruchslos, wie platt sind seine Gesprächemit ihnen! In Frankreich hatte er in dieser Hinsicht aus einem gewissen Grund mehrGlück: man denke nur an die Begegnung des russischen Skythen mit dem französischen Plato34 . Woher kam nun das alles? Daher, daß er für seine Reise nicht entsprechend vorbereitetwar, daß er keine gründliche Bildung besaß. Aber davon abgesehen, ist doch mehr sein persönlicherCharakter daran schuld, daß die „Briefe eines russischen Reisenden“ so flach sind,als ein Mangel an Tatsachenmaterial. Die geistigen Nöte Rußlands kannte er nicht besondersgut. Über seine Gedichte ist nicht viel zu sagen: dieselben Phrasen, bloß gereimt. Auch hierist Karamsin wie sonst überall Umbildner der Sprache, aber kein Dichter.Das sind die Mängel der Werke Karamsins, und das ist der Grund dafür, daß er so bald vergessenwurde und beinahe seinen Ruhm überlebt hätte. Um gerecht zu sein, muß man sagen,daß seine Schriften da, wo er nicht in Sentimentalität verfällt und aus echtem Empfinden herausschreibt, eine gewisse Herzenswärme ausströmen; besonders fällt das an den Stellen auf,wo er über Rußland spricht. Ja, er liebte das Gute, er liebte sein Vaterland und diente ihmnach Kräften, sein Name ist unsterblich, aber mit Ausnahme der „Geschichte“ sind seineWerke tot und werden nicht auferstehen, so laut auch Leute wie die Herren Iwantschin-Pissarew und Orest Somow rufen mögen! ...Die „Geschichte des russischen Staates“ ist Karamsins bedeutsamste Tat; in ihr offenbart ersich ganz, mit allen seinen guten und schlechten Eigenschaften. Ich nehme es nicht auf mich,dieses Werk wissenschaftlich zu beurteilen, denn ich gebe offen zu, daß eine derartige Arbeitmeine Kräfte übersteigen würde. Meine Ansicht (eine durchaus nicht neue) ist die eines Laienund nicht eines Fachmannes. Zieht man alles in Betracht, was vor Karamsin für eine systematischeGeschichtsdarstellung getan worden ist, so kann man nicht umhin, festzustellen, daßseine Arbeit eine titanische Leistung war. Ihr Hauptmangel liegt in Karamsins Auffassung vonden Dingen und [55] den Ereignissen, die oft kindlich und immer, milde gesagt, unmännlichist; in dem rhetorischen Wortschwall und dem verfehlten Wunsch, zu ermahnen und zu belehren,wo die Tatsachen für sich selber sprechen; in der Voreingenommenheit für die Helden derHandlung, die zwar dem Herzen des Verfassers alle Ehre macht, nicht aber seinem Verstand.Ihr Hauptwert liegt in der fesselnden Darstellung und der meisterhaften Schilderung der Ereignisse,in der oft künstlerischen Charakterzeichnung, vor allem aber im Stil, in dem Karamsinsich hier selbst übertrifft. Was das letzte anbelangt, ist bei uns bis heute noch nichtsGleichwertiges geschrieben worden. In der „Geschichte des russischen Staates“ ist KaramsinsStil ein vorwiegend russischer Stil; man kann ihm nur ein Gegenstück in Versen entgegenstellen,Puschkins „Boris Godunow“. Das ist etwas ganz und gar anderes als der Stil seiner kleinerenSchriften; denn hier schöpft der Verfasser aus den heimatlichen Urquellen, ist durchdrungenvom Hauch der historischen Überlieferung; abgesehen von den ersten vier Bänden, wonoch rhetorisches Geklingel überwiegt, die Sprache aber doch bereits erstaunlich geschliffen34 Die Worte „Begegnung des russischen Skythen mit dem französischen Plato“ beziehen sich auf den BesuchKaramsins bei dem französischen Archäologen Jean-Jacques Barthlemy, dem Verfasser des Romans „Reise desjungen Anacharsis in Griechenland“.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 33ist, trägt sein Stil hier ein Gepräge von Bedeutsamkeit, Größe und Kraft und geht oft in echteBeredsamkeit über. Kurz, in der „Geschichte des russischen Staates“ besitzt unsere Sprache,nach dem Ausspruch eines unserer Kritiker, ein Denkmal, dem auch der Zahn der Zeit nichtsanzuhaben vermag. Ich wiederhole: Karamsins Name ist unsterblich, seine Werke jedoch sind,mit Ausnahme der „Geschichte“, bereits tot und werden nie wieder auferstehen! ...Fast gleichzeitig mit Karamsin betrat Dmitrijew (I. I.) den literarischen Schauplatz. Er war ingewisser Hinsicht ein Erneuerer der poetischen Sprache, und seine Werke galten vor Shukowskiund Batjuschkow mit Recht als vorbildlich. Seine dichterische Begabung unterliegtübrigens nicht dem geringsten Zweifel. Das Hauptelement seines Talents war der Witz, unddarum ist „Fremde Manier“ auch sein bestes Stück. Seine Fabeln sind vorzüglich, es fehltihnen nur das Volkstümliche, um vollkommen zu sein. Im Märchen schließlich sucht Dmitrijewvergeblich seinesgleichen. Darüber hinaus schwang sich sein Talent zeitweise zu echtemLyrismus auf, wofür sein schönes Werk „Jermak“ Beweis ist, besonders aber seine Übersetzung,Übertragung oder Umdichtung (man nenne es, wie man wolle) eines unter dem Titel„Gedanken beim Donner“ bekanntgewordenen Gedichts von Goethe...[56] Krylow brachte die Fabel bei uns zum nec plus ultra * der Vollendung. Muß erst bewiesenwerden, daß er ein genialer russischer Dichter ist und unermeßlich höher steht als alleseine Rivalen? Das wird, scheint mir, von niemandem bezweifelt. Ich vermerke nur, und bindamit übrigens nicht der erste, daß die Fabel deshalb in Rußland einen so außergewöhnlichenErfolg hatte, weil sie nicht zufällig, sondern als Auswirkung unseres Volksgeistes entstand,der nichts so liebt wie muntere Geschichten und Gleichnisse. Das ist der schlagendste Beweisdafür, daß die Literatur unbedingt volksmäßig sein muß, wenn sie Dauer und Ewigkeitswerthaben will! Man denke nur daran, wie oft und erfolglos man im Ausland Krylow zu übersetzenversucht hat. Schwer irrt sich also, wer da meint, nur durch sklavische Nachahmung desAuslands könne man dessen Aufmerksamkeit auf sich lenken.Oserow wird bei uns sowohl als Erneuerer wie als Schöpfer des russischen Theaters geehrt. Er istnatürlich weder das eine noch das andere; denn das russische Theater ist ein Traumgebilde dererhitzten Phantasie unserer guten Patrioten. Richtig ist, daß Oserow unser erster Bühnenschriftstellermit wirklichem, wenn auch nicht allzu großem Talent war; er hat kein Theater geschaffen,sondern das französische Theater bei uns eingeführt, d. h. er war der erste, der die unverfälschteSprache der französischen Melpomene ** bei uns erklingen ließ. Übrigens war er kein Dramatikerim vollen Sinne des Wortes; er kannte den Menschen nicht. Man führe einen Zuschauer, der wederKenntnis noch Bildung besitzt, doch mit natürlichem Verstand begabt und aufnahmefähig fürdas Schöne ist, in eine Shakespeare- oder eine Schiller-Aufführung; er wird, auch ohne etwas vonGeschichte zu wissen, leicht begreifen, worum es geht; wenn er auch die geschichtlichen Personennicht versteht, wird er doch die menschlichen Personen vorzüglich verstehen; schaut er sichdagegen eine Tragödie von Oserow an, wird er entschieden gar nichts begreifen. Vielleicht ist dasein allgemeiner Mangel der sogenannten klassischen Tragödie. Aber Oserow hat auch andereSchwächen, die aus seinem persönlichen Charakter hervorgehen. Mit einer empfindsamen, abernicht tiefen, leicht erregbaren, aber nicht kraftvollen Seele begabt, war er nicht fähig, starke Leidenschaftenzu zeichnen. Deshalb sind auch seine Frauen interessanter als seine Männer, seineBösewichte nicht mehr und nicht minder als die Personifizierung allgemeiner Gattungslaster;deshalb machte er aus Fingal einen [57] arkadischen [ideale, idyllische] Schäferjungen und ließihn Moina seine Liebe in Madrigalen [Schäferdichtung] gestehen, wie sie eher einem ErastesTschertopolochow anstehen als dem furchtgebietenden Verehrer Odins... Sein bestes Stück istzweifellos der „Ödipus“ und das schlechteste „Dmitri Donskoi „‚ diese schwülstige Tiraden-* „Nicht mehr weiter“, „Nicht darüber hinaus“** Muse der tragischen Dichtung und des TrauergesangsOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 33ist, trägt sein Stil hier ein Gepräge von Bedeutsamkeit, Größe und Kraft und geht oft in echteBeredsamkeit über. Kurz, in der „Geschichte des russischen Staates“ besitzt unsere Sprache,nach dem Ausspruch eines unserer Kritiker, ein Denkmal, dem auch der Zahn der Zeit nichtsanzuhaben vermag. Ich wiederhole: Karamsins Name ist unsterblich, seine Werke jedoch sind,mit Ausnahme der „Geschichte“, bereits tot und werden nie wieder auferstehen! ...Fast gleichzeitig mit Karamsin betrat Dmitrijew (I. I.) den literarischen Schauplatz. Er war ingewisser Hinsicht ein Erneuerer der poetischen Sprache, und seine Werke galten vor Shukowskiund Batjuschkow mit Recht als vorbildlich. Seine dichterische Begabung unterliegtübrigens nicht dem geringsten Zweifel. Das Hauptelement seines Talents war der Witz, unddarum ist „Fremde Manier“ auch sein bestes Stück. Seine Fabeln sind vorzüglich, es fehltihnen nur das Volkstümliche, um vollkommen zu sein. Im Märchen schließlich sucht Dmitrijewvergeblich seinesgleichen. Darüber hinaus schwang sich sein Talent zeitweise zu echtemLyrismus auf, wofür sein schönes Werk „Jermak“ Beweis ist, besonders aber seine Übersetzung,Übertragung oder Umdichtung (man nenne es, wie man wolle) eines unter dem Titel„Gedanken beim Donner“ bekanntgewordenen Gedichts von Goethe...[56] Krylow brachte die Fabel bei uns zum nec plus ultra * der Vollendung. Muß erst bewiesenwerden, daß er ein genialer russischer Dichter ist und unermeßlich höher steht als alleseine Rivalen? Das wird, scheint mir, von niemandem bezweifelt. Ich vermerke nur, und bindamit übrigens nicht der erste, daß die Fabel deshalb in Rußland einen so außergewöhnlichenErfolg hatte, weil sie nicht zufällig, sondern als Auswirkung unseres Volksgeistes entstand,der nichts so liebt wie muntere Geschichten und Gleichnisse. Das ist der schlagendste Beweisdafür, daß die Literatur unbedingt volksmäßig sein muß, wenn sie Dauer und Ewigkeitswerthaben will! Man denke nur daran, wie oft und erfolglos man im Ausland Krylow zu übersetzenversucht hat. Schwer irrt sich also, wer da meint, nur durch sklavische Nachahmung desAuslands könne man dessen Aufmerksamkeit auf sich lenken.Oserow wird bei uns sowohl als Erneuerer wie als Schöpfer des russischen Theaters geehrt. Er istnatürlich weder das eine noch das andere; denn das russische Theater ist ein Traumgebilde dererhitzten Phantasie unserer guten Patrioten. Richtig ist, daß Oserow unser erster Bühnenschriftstellermit wirklichem, wenn auch nicht allzu großem Talent war; er hat kein Theater geschaffen,sondern das französische Theater bei uns eingeführt, d. h. er war der erste, der die unverfälschteSprache der französischen Melpomene ** bei uns erklingen ließ. Übrigens war er kein Dramatikerim vollen Sinne des Wortes; er kannte den Menschen nicht. Man führe einen Zuschauer, der wederKenntnis noch Bildung besitzt, doch mit natürlichem Verstand begabt und aufnahmefähig fürdas Schöne ist, in eine Shakespeare- oder eine Schiller-Aufführung; er wird, auch ohne etwas vonGeschichte zu wissen, leicht begreifen, worum es geht; wenn er auch die geschichtlichen Personennicht versteht, wird er doch die menschlichen Personen vorzüglich verstehen; schaut er sichdagegen eine Tragödie von Oserow an, wird er entschieden gar nichts begreifen. Vielleicht ist dasein allgemeiner Mangel der sogenannten klassischen Tragödie. Aber Oserow hat auch andereSchwächen, die aus seinem persönlichen Charakter hervorgehen. Mit einer empfindsamen, abernicht tiefen, leicht erregbaren, aber nicht kraftvollen Seele begabt, war er nicht fähig, starke Leidenschaftenzu zeichnen. Deshalb sind auch seine Frauen interessanter als seine Männer, seineBösewichte nicht mehr und nicht minder als die Personifizierung allgemeiner Gattungslaster;deshalb machte er aus Fingal einen [57] arkadischen [ideale, idyllische] Schäferjungen und ließihn Moina seine Liebe in Madrigalen [Schäferdichtung] gestehen, wie sie eher einem ErastesTschertopolochow anstehen als dem furchtgebietenden Verehrer Odins... Sein bestes Stück istzweifellos der „Ödipus“ und das schlechteste „Dmitri Donskoi „‚ diese schwülstige Tiraden-* „Nicht mehr weiter“, „Nicht darüber hinaus“** Muse der tragischen Dichtung und des TrauergesangsOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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