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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 328etwas Besonderes und von ihr Unabhängiges von seiner physischen Natur trennen, sondernsoll sie von ihr unterscheiden, wie man die Anatomie von der Physiologie unterscheidet. DieGesetze des Geistes müssen an den Taten des Geistes studiert werden. Das ist Sache der Logik,jener Wissenschaft, die sich unmittelbar an die Physiologie anschließt, wie die Physiologiesich an die Anatomie anschließt. Zum Teufel mit der Metaphysik: dieses Wort bezeichnetetwas Übernatürliches, also einen Unsinn, während die Logik schon ihrer etymologischen Bedeutungnach sowohl Gedanke wie auch Wort meint. Sie muß ihren eignen Weg gehen, darfaber keinen Augenblick vergessen, daß der Gegenstand ihrer Untersuchungen eine Blume ist,die in der Erde wurzelt, d. h. ein Geistiges, das nichts anderes ist als die Tätigkeit eines Physischen.Die Wissenschaft von den Hirngespinsten des Transzendentalismus und der „théologie“befreien, die Grenzen des Geistes aufzeigen, in denen seine Tätigkeit fruchtbar ist, ihn ein fürallemal von allem Phantastischen und [556] Mystischen trennen – das ist das, was der Begründereiner neuen Philosophie tun wird und was Comte nicht tun wird, was er jedoch inGemeinschaft mit vielen ihm ähnlichen bedeutenden Geistern dem zu tun helfen wird, derdazu berufen ist. Er selbst ist zu eng gebaut für ein so weitgreifendes, umfassendes Werk. Erist Redakteur, aber nicht Schöpfer, Wetterleuchten, das einen Sturm ankündigt, aber nicht derSturm, eine jener alarmierenden Erscheinungen, die das Nahen einer geistigen Revolutionankünden, aber nicht diese Revolution. Das Genie ist eine große Sache: es trägt wie GogolsPetruschka seinen eigenen Geruch mit sich herum: Comte riecht nicht nach Genialität. Vielleichtirre ich mich, aber das ist meine Meinung.In derselben Nummer der „Revue des Deux Mondes“ hat mich der kleine Aufsatz eines gewissenThomas: „Un nouvel écrit de M. de Schelling“ sehr interessiert. Ich hatte nur eine sehrdunkle Vorstellung von der neuen mystischen Auffassung Schellings. Thomas sagt, Schellingnenne den Deismus imbécile [närrisch] (wozu ich Herrn Leroux beglückwünsche) und verachteihn noch mehr als den Atheismus, den er unsagbar verachtet. Und was ist er selber? Er ist pantheistischerChrist und hat für auserwählte Naturen (für die Aristokratie der Menschheit) einewunderschöne Kirche gegründet, in der es viele Klöster gibt. Arme Menschheit! Der guteOdojewski hat mir einmal in allem Ernst versichert, daß es zwischen dem Wahnsinn und demnormalen Geisteszustand keinen scharfen Trennungsstrich gebe und daß man bei keinem Menschenganz sicher sein könne, daß er nicht verrückt ist. Wie richtig ist das doch, nicht nur inbezug auf Schelling allein! Wer ein System, eine Überzeugung hat, der muß um seinen normalenVerstand besorgt sein. Fast alle Wahnsinnigen zeigen doch im Gespräch einen erstaunlichklaren Verstand, solange sie nicht auf ihre idée fixe [fixe Idee] zu sprechen kommen...An W. P. Botkin vom 7. (19.) Juli 1847(Bruchstück)Dresden, 7. (19.) Juli 1847Sei mir gegrüßt, mein bester Wassili Petrowitsch. Mit Mühe hab’ ich mich aufgerafft, Dir zuschreiben. Da bin ich nun schon zum zweitenmal in diesem elenden, langweiligen Dresden.Übrigens ist [557] das vielleicht auch Unsinn (das heißt, daß Dresden eine elende, langweiligeStadt ist, nicht daß ich zum zweitenmal hier bin – letzterer Umstand unterliegt nicht demgeringsten Zweifel). Leider bin ich, mein lieber Glatzkopf, nur dazu nach Europa gereist, umfestzustellen, daß ich ganz und gar nicht zum Reisen tauge. Ich war z. B. in der SächsischenSchweiz; für einen Augenblick wollte mich diese malerische Gegend schon fesseln, aber baldwar ich ihrer überdrüssig, als kennte ich sie seit uralten Zeiten in- und auswendig. Langeweileist mein unzertrennlicher Begleiter, und ich kann es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren.Was für ein stumpfsinniges, triviales Volk sind doch die Deutschen – die reinen Ho-OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 329henpriester! Ihnen fließt kein Blut in den Adern, sondern der dicke Bodensatz des scheußlichenGetränks, das unter dem Namen Bier bekannt ist und das sie ohne jedes Maß verschlingenund verdudeln. Kürzlich kam bei Tisch die Rede auf die Stände. Und da sagte einer: „Ichliebe den Fortschritt, aber einen gemäßigten Fortschritt, und auch dabei lieb’ ich mehr dieMäßigung als den Fortschritt.“ Als Turgenjew mir die Worte dieses echten Deutschen übersetzte,hätte ich beinahe geweint, daß ich nicht Deutsch verstand und ihm sagen konnte: „Ichliebe Suppe, die im Topf gekocht ist, aber dabei liebe ich mehr den Topf als die Suppe.“ Dieserselbe junge Deutsche sagte von einem Redner, den er loben wollte: „Er ist gemäßigt hochtrabend.“Aber es läßt sich nicht alles über dieses Volk erzählen, das aus Resten und Abfällenzusammengeflickt ist. Kurz gesagt · · · · · · · · · · · · · ·! Hinsichtlich des Urteils über dieDeutschen bin ich zur Autorität für Annenkow und Turgenjew geworden: wenn ein Deutschersie mit seiner Stumpfsinnigkeit aus der Fassung bringt, sagen sie: „Belinski hat recht!“Was für eine Armut in Deutschland, besonders in dem unglücklichen Schlesien, das Friedrichder Große für die schönste Perle in seiner Krone hielt. Erst hier habe ich die furchtbare Bedeutungder Worte: Pauperismus und Proletariat verstehen gelernt. In Rußland haben dieseWorte keinen Sinn. Dort gibt es hier und da Mißernte und Hunger, dort gibt es Gutsherren,die mit ihren Bauern umspringen wie Plantagenbesitzer mit ihren Negern, dort gibt es Diebeund Räuber unter den Beamten; aber es gibt keine Armut, obwohl auch keinen Reichtum.Faulheit und Trunksucht bringen dort Schmutz und Lumpen hervor, aber das ist alles nochnicht Armut. Armut ist Ausweglosigkeit vor dem ewigen Schreckgespenst des Hungertods.Ein Mensch hat gesunde Hände, [558] ist fleißig und ehrlich, bereit zu arbeiten – und es gibtkeine Arbeit für ihn: das ist Armut, das ist Pauperismus, das ist Proletariat! Glücklich ist hiernoch, wer mit seinem Hund und seinen minderjährigen Kindern, barfuß vor den Karren gespannt,aus der Gegend von Salzbrunn Steinkohle nach Freiburg bringen kann. Wer dagegenkeine Anstellung als Hund oder als Pferd findet, der geht betteln. Gesicht, Stimme und Gestenlassen erkennen, daß er kein Berufsbettler ist, daß er den ganzen Schrecken, die ganzeSchmach seiner Situation empfindet: wie sollte man ihm einen Silbergroschen verweigern,aber wie soll man ihnen allen etwas geben, wo es ihrer doch viel mehr gibt, als ich Pfennigein der Tasche habe. Schrecklich!Ich war in der Dresdner Galerie und habe Raffaels Madonna gesehen. Was für einen Unsinnhaben die Romantiker, besonders Shukowski, über sie zusammengeschrieben. Nach meinerMeinung hat ihr Gesicht ebensowenig Romantisches wie Klassisches an sich. Das ist nichtdie Mutter des Christengottes: das ist eine aristokratische Dame, eine Königstochter, idéalsublime du comme il faut * . Sie blickt uns nicht grade mit Verachtung an – das würde nicht zuihr passen, sie ist zu wohlerzogen, um irgend jemanden mit Verachtung zu kränken, selbstMenschen nicht, sie sieht uns nicht als Canaillen an: dies Wort wäre zu grob und unsauber fürihren edlen Mund; nein, sie betrachtet uns mit kühlem Wohlwollen und befürchtet dabeigleichzeitig sowohl sich an unseren Blicken zu beflecken wie auch uns Plebejer zu kränken,wenn sie sich etwa von uns abwendet. Der Knabe, den sie auf dem Arm hält, ist offenherzigerals sie; bei ihr ist die Unterlippe kaum merklich hoffärtig geschürzt, bei ihm dagegen atmetder ganze Mund Verachtung für uns Nichtswürdige. Aus seinen Augen blickt nicht der künftigeGott der Liebe und des Friedens, der Verzeihung und der Erlösung, sondern der alttestamentlicheGott des Zorns und der Rache, der Vergeltung und der Strafe. Aber wie edel, wiegraziös die Pinselführung! Man kann sich gar nicht satt sehen! Ich mußte unwillkürlich anPuschkin denken: der gleiche Adel, die gleiche Grazie im Ausdruck bei der gleichen Treueund Strenge der Zeichnung! Nicht umsonst hat Puschkin Raffael so geliebt: er ist ihm naturverwandt.Sehr hat mir auch das Bild Michelangelos – Leda im Augenblick ihrer Vereinigungmit dem Schwan – gefallen: ganz zu schweigen von ihrem Körper (besonders les fesses [das* ???OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 328etwas Besonderes und von ihr Unabhängiges von seiner physischen Natur trennen, sondernsoll sie von ihr unterscheiden, wie man die Anatomie von der Physiologie unterscheidet. DieGesetze des Geistes müssen an den Taten des Geistes studiert werden. Das ist Sache der Logik,jener Wissenschaft, die sich unmittelbar an die Physiologie anschließt, wie die Physiologiesich an die Anatomie anschließt. Zum Teufel mit der Metaphysik: dieses Wort bezeichnetetwas Übernatürliches, also einen Unsinn, während die Logik schon ihrer etymologischen Bedeutungnach sowohl Gedanke wie auch Wort meint. Sie muß ihren eignen Weg gehen, darfaber keinen Augenblick vergessen, daß der Gegenstand ihrer Untersuchungen eine Blume ist,die in der Erde wurzelt, d. h. ein Geistiges, das nichts anderes ist als die Tätigkeit eines Physischen.Die Wissenschaft von den Hirngespinsten des Transzendentalismus und der „théologie“befreien, die Grenzen des Geistes aufzeigen, in denen seine Tätigkeit fruchtbar ist, ihn ein fürallemal von allem Phantastischen und [556] Mystischen trennen – das ist das, was der Begründereiner neuen Philosophie tun wird und was Comte nicht tun wird, was er jedoch inGemeinschaft mit vielen ihm ähnlichen bedeutenden Geistern dem zu tun helfen wird, derdazu berufen ist. Er selbst ist zu eng gebaut für ein so weitgreifendes, umfassendes Werk. Erist Redakteur, aber nicht Schöpfer, Wetterleuchten, das einen Sturm ankündigt, aber nicht derSturm, eine jener alarmierenden Erscheinungen, die das Nahen einer geistigen Revolutionankünden, aber nicht diese Revolution. Das Genie ist eine große Sache: es trägt wie GogolsPetruschka seinen eigenen Geruch mit sich herum: Comte riecht nicht nach Genialität. Vielleichtirre ich mich, aber das ist meine Meinung.In derselben Nummer der „Revue des Deux Mondes“ hat mich der kleine Aufsatz eines gewissenThomas: „Un nouvel écrit de M. de Schelling“ sehr interessiert. Ich hatte nur eine sehrdunkle Vorstellung von der neuen mystischen Auffassung Schellings. Thomas sagt, Schellingnenne den Deismus imbécile [närrisch] (wozu ich Herrn Leroux beglückwünsche) und verachteihn noch mehr als den Atheismus, den er unsagbar verachtet. Und was ist er selber? Er ist pantheistischerChrist und hat für auserwählte Naturen (für die Aristokratie der Menschheit) einewunderschöne Kirche gegründet, in der es viele Klöster gibt. Arme Menschheit! Der guteOdojewski hat mir einmal in allem Ernst versichert, daß es zwischen dem Wahnsinn und demnormalen Geisteszustand keinen scharfen Trennungsstrich gebe und daß man bei keinem Menschenganz sicher sein könne, daß er nicht verrückt ist. Wie richtig ist das doch, nicht nur inbezug auf Schelling allein! Wer ein System, eine Überzeugung hat, der muß um seinen normalenVerstand besorgt sein. Fast alle Wahnsinnigen zeigen doch im Gespräch einen erstaunlichklaren Verstand, solange sie nicht auf ihre idée fixe [fixe Idee] zu sprechen kommen...An W. P. Botkin vom 7. (19.) Juli 1847(Bruchstück)Dresden, 7. (19.) Juli 1847Sei mir gegrüßt, mein bester Wassili Petrowitsch. Mit Mühe hab’ ich mich aufgerafft, Dir zuschreiben. Da bin ich nun schon zum zweitenmal in diesem elenden, langweiligen Dresden.Übrigens ist [557] das vielleicht auch Unsinn (das heißt, daß Dresden eine elende, langweiligeStadt ist, nicht daß ich zum zweitenmal hier bin – letzterer Umstand unterliegt nicht demgeringsten Zweifel). Leider bin ich, mein lieber Glatzkopf, nur dazu nach Europa gereist, umfestzustellen, daß ich ganz und gar nicht zum Reisen tauge. Ich war z. B. in der SächsischenSchweiz; für einen Augenblick wollte mich diese malerische Gegend schon fesseln, aber baldwar ich ihrer überdrüssig, als kennte ich sie seit uralten Zeiten in- und auswendig. Langeweileist mein unzertrennlicher Begleiter, und ich kann es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren.Was für ein stumpfsinniges, triviales Volk sind doch die Deutschen – die reinen Ho-OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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