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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 312ganzes Unglück kam daher, daß er, der ganz gewöhnliche Mensch, die Rolle eines ungewöhnlichenspielen wollte. Wer hat nicht in der Jugend geschwärmt, sich Täuschungen hingegeben,Hirngespinsten nachgejagt, und wer hat dabei nicht Enttäuschungen erlebt, undwem haben diese Enttäuschungen nicht Herzkrämpfe, Schwermut, Apathie eingebracht, undwer hat sich dann nicht von ganzem Herzen über sie lustig gemacht? Aber gesunden Naturenbringt diese praktische Logik des Lebens und der Erfahrung Nutzen: sie läßt sie sich entwikkelnund sittlich reifer werden; Romantiker gehen an ihr zugrunde...Als wir zum erstenmal den Brief lasen, den unser Held nach dem Tode seiner Mutter an Onkelund Tante schrieb und der Seelenruhe und gesunden Menschenverstand zeigt – machte dieserBrief einen irgendwie sonderbaren Eindruck auf uns; aber wir erklärten ihn uns damit, daß derAutor seinen Helden noch einmal nach Peters-[527]burg schicken wollte, um ihn dort seineDon-Quichotte-Laufbahn mit neuen Dummheiten würdig beschließen zu lassen. Mit diesemBrief endet der zweite Teil des Romans; der Epilog beginnt vier Jahre nach der zweiten Ankunftunseres Helden in Petersburg. Die Bühne betritt Pjotr Iwanytsch. Diese Figur ist in denRoman nicht um ihrer selbst willen eingeführt, sondern um durch ihren Gegensatz, den sie zudem Helden des Romans bildet, diesen schärfer hervortreten zu lassen. Das gibt dem ganzenRoman eine etwas didaktische Nuance, woraus viele dem Autor nicht ohne Grund einen Vorwurfgemacht haben. Aber der Autor hat sich auch hier als Mann von ungewöhnlichem Talenterwiesen. Pjotr Iwanytsch ist keine abstrakte Idee, sondern eine lebendige Person, eine mitkühnen, breiten und sicheren Pinselstrichen in Lebensgröße gezeichnete Figur. Als Menschenbeurteilt man ihn entweder zu günstig oder zu abfällig und irrt sich in beiden Fällen. Man willin ihm irgendein Ideal, ein nachahmenswertes Musterbild sehen: das tun die praktischen undvernünftigen Leute. Die anderen sehen in ihm fast ein Ungeheuer, das tun die Schwärmer.Pjotr Iwanytsch ist auf seine Art ein sehr tüchtiger Mensch; er ist klug, sehr klug, weil er eingutes Verständnis hat für Gefühle und Leidenschaften, die er nicht besitzt und die er verachtet;ohne selbst poetisch veranlagt zu sein, versteht er tausendmal mehr von Poesie als sein Neffe,der es fertiggebracht hat, sich aus Puschkins besten Werken einen Geist zusammenzuklauben,wie er ihn aus den Werken von Phrasendreschern und Rhetoren hätte zusammenlesen können.Pjotr Iwanytsch ist Egoist, von Natur kalt, unfähig zu großmütigen Regungen, dabei aber nichtnur nicht bösartig, sondern ausgesprochen gutmütig. Er ist ehrlich, anständig, kein Heuchler,verstellt sich nicht, man kann sich auf ihn verlassen, er verspricht nichts, was er nicht haltenkann oder will; was er aber verspricht, das führt er auch unbedingt aus. Kurz, er ist ein im vollenSinn des Worts anständiger Mensch, von denen wir, geb’s Gott, mehr haben sollten. Erhatte sich, entsprechend seiner Natur und dem gesunden Menschenverstand, unverbrüchlicheLebensregeln zurechtgelegt. Er war nicht besonders stolz auf sie und brüstete sich nicht mitihnen, aber er hielt sie für unfehlbar richtig. Wirklich war der Talar seiner praktischen Philosophieaus dauerhaftem, festem Stoff genäht und wohl dazu angetan, ihn vor den Unbilden desLebens zu schützen. Wie groß war jedoch sein Erstaunen und sein Schrecken, als er plötz-[528]lich, schon in dem Alter, wo das Kreuz schmerzt und die Haare grau werden, in seinemTalar einen Riß entdeckte – zwar nur einen einzigen, aber dafür was für einen. Er hatte sichnie besonders um Familienglück gekümmert, war aber überzeugt, seiner Familiensituationeine feste Grundlage gegeben zu haben – und plötzlich mußte er erkennen, daß seine armeFrau das Opfer seiner Überklugheit geworden war, daß er ihr Leben hatte verkümmern lassen,daß er sie in einer kalten, beengten Atmosphäre erstickt hatte.Das ist eine bittere Lehre für die praktischen Menschen, die Repräsentanten des gesundenMenschenverstands. Offenbar braucht der Mensch noch etwas mehr als nur gesunden Menschenverstand!Offenbar lauert uns an den Grenzen des Extremen das Schicksal am meistenauf. Offenbar gehören auch die Leidenschaften zur Vollständigkeit der menschlichen Natur,und man kann einem anderen Menschen nicht immer ungestraft ein Glück aufzwängen, dasOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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