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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 310be fähig gewesen wäre, hätte ihn das dazu bringen müssen, sie zu fürchten und sie zu fliehen,denn eine solche Liebe ist nicht menschlich, sondern bestialisch, ist ein gegenseitiges Zerfleischen.Liebe verlangt Freiheit. Die Liebenden, die sich einander dann und wann ganz hingeben,wollen dann und wann auch sich selber angehören. Adujew fordert ewige Liebe, ohne zubegreifen, daß die Liebe um so kurzlebiger ist, um so schneller erkaltet und in Gleichgültigkeitund manchmal sogar in Abscheu übergeht, je lebhafter und leidenschaftlicher sie ist, jenäher sie dem Lieblingsideal der Poeten kommt. Und umgekehrt: je ruhiger und stiller, d. h.je prosaischer die Liebe ist, um so längere Dauer hat sie: die Gewohnheit befestigt sie fürsganze Leben. Eine poetische, leidenschaftliche Liebe ist die Blüte unsres Lebens, unsrer Jugend;wenige Menschen erleben sie, und auch dann nur einmal im Leben, obwohl manchespäter noch mehrmals lieben, allerdings nicht mehr so, denn, sagt der deutsche Dichter: desLebens Mai blüht einmal und nicht wieder. Shakespeare hat nicht umsonst Romeo und Juliaam Schluß seiner Tragödie sterben lassen: dadurch bleiben sie im Gedächtnis des Lesers alsHeroen der Liebe, als ihre Apotheose * ; wären sie am Leben geblieben, würden wir sie uns alsglückliche Gatten vorstellen, die gähnen, wenn sie beisammensitzen, und sich manchmalauch zanken, was durchaus nicht poetisch ist.Aber da sandte nun das Schicksal unserem Helden ein ebensolches weibliches Wesen, d. h.ein ebenso wie er verdorbenes, mit umgekrempeltem Herz und Hirn. Anfangs schwamm er inSeligkeit, vergaß alles, ließ alles stehn und liegen, saß jeden Tag vom frühen Morgen bis zurspäten Nacht bei ihr. Und worin bestand seine Seligkeit? In Gesprächen über seine Liebe.Und dieser leidenschaftliche junge Mann saß unter vier Augen bei einer schönen jungen Frau,die ihn liebt und die er liebt, ohne dabei rot und blaß zu werden und vor sehnsüchtigem Verlangenzu vergehen – ihm genügte das Gerede über ihre beiderseitige Liebe! ... Übrigens istes ver-[524]ständlich: eine starke Neigung zu Idealismus und Romantik zeugt fast immer voneinem Mangel an Temperament; das sind geschlechtslose Wesen, gleich den Kryptogamen **der Pflanzenwelt, den Pilzen zum Beispiel. Wir verstehen jene bebende, schüchterne Anbetungeiner Frau, bei der nicht der geringste dreiste Gedanke mit im Spiele ist, aber das istnicht, was man platonisch nennt: das ist der erste Moment der ersten jungfräulichen Liebe –das ist kein Mangel an Leidenschaft, sondern Leidenschaft, die sich noch vor sich selbst zuäußern scheut. Damit beginnt jede erste Liebe, aber hierbei stehnzubleiben, ist ebenso lächerlichund dumm, wie wenn man sein Leben lang Kind bleiben und auf einem Stöckchen herumreitenwollte. Die Liebe hat ihre Entwicklungsgesetze, ihr Lebensalter wie die Blumen,wie das menschliche Leben. Sie hat ihren üppigen Frühling, ihren heißen Sommer, schließlicheinen Herbst, der bei den einen warm, hell und fruchtbringend ausfällt, bei den anderenkühl, dumpfig und unfruchtbar. Aber unser Held wollte nichts wissen von den Gesetzen desHerzens, der Natur, der Wirklichkeit, er machte sich statt ihrer seine eignen Gesetze zurecht,er erklärte die bestehende Welt stolz für ein Hirngespinst und das von ihm produzierte Hirngespinstfür die wirklich existierende Welt. Der Möglichkeit zum Trotz wollte er hartnäckigfür sein ganzes Leben beim ersten Moment der Liebe haltmachen. Die Herzensergüsse vorTafajewa begannen ihn jedoch bald zu ermüden; er glaubte die Angelegenheit durch einenHeiratsantrag einrenken zu können. Unter diesen Umständen war Eile am Platze; aber er bildetesich nur ein, einen Entschluß gefaßt zu haben, in Wirklichkeit brauchte er nur einen Gegenstandfür neue Schwärmereien. Dabei begann Tafajewa ihn mit ihrer aufdringlichen Liebetödlich zu langweilen; er fing an, sie dafür, daß er sie bereits nicht mehr liebte, auf die rohsteund widerwärtigste Weise zu tyrannisieren. Bereits vorher schon begann er zu begreifen, daßdie Freiheit in der Liebe keine üble Sache ist, daß es angenehm ist, mit einer geliebten Fraubeisammen zu sein, aber ebenso angenehm, wenn man Lust hat, auf dem Newski-Prospekt* Verherrlichung, Verklärung** Pflanze, deren sexuelle Vermehrung ohne Blüte (also unauffällig) stattfindet.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 311spazierengehen, mit Bekannten und Freunden dinieren, den Abend mit ihnen verbringen zudürfen, daß man schließlich lieben kann, ohne dabei seine Dienststellung aufzugeben. Nachdemer die arme Frau auf die barbarischste Art gepeinigt und ihr die ganze Schuld an demUnglück aufgeladen hatte, an dem er viel mehr schuld hatte als sie – beschloß er endlich, sicheinzugestehen, daß er sie nicht [525] mehr liebe und daß er mit ihr Schluß machen müsse. Sowar nun sein dummes Liebesideal durch die Erfahrung in Trümmer geschlagen. Er mußteselbst seine Unfähigkeit in der Liebe einsehen, von der er sein ganzes Leben lang geschwärmthatte. Er erkannte klar, daß er durchaus kein Held war, sondern ein ganz gewöhnlicherMensch, schlechter als die, die er verachtete, daß er in sich selbst verliebt war, ohne eszu verdienen, anspruchsvoll, ohne ein Recht darauf zu haben, hochmütig, ohne stark zu sein,stolz und von sich eingenommen, ohne Verdienste zu haben, undankbar und egoistisch. DieseEntdeckung traf ihn wie ein Donnerschlag, veranlaßte ihn aber nicht, Aussöhnung mit demLeben zu suchen, den richtigen Weg zu gehen. Er verfiel in tödliche Apathie und beschloß,sich für seine Nichtigkeit an der Natur und der Menschheit dadurch zu rächen, daß er sich mitdem viehischen Kostjakow zusammentat und sich, ohne jede eigentliche Lust, leeren Vergnügungenhingab. Seine letzte Liebesaffäre ist abscheulich. Er ging darauf aus, ein armes,leidenschaftliches Mädchen zugrunde zu richten, einfach so, aus Langerweile, und konntesich bei diesem Anschlag nicht einmal auf die Tollheit sinnlichen Verlangens berufen,obwohl auch das eine schlechte Rechtfertigung ist, besonders wo es dafür einen direkterenund ehrlicheren Weg gibt. Der Vater des Mädchens erteilte ihm eine für seine Eigenliebefurchtbare Lehre: er versprach, ihn zu verprügeln; unser Held wollte sich vor Verzweiflung indie Newa stürzen, war aber zu feige dazu. Ein Konzert, in das ihn seine Tante schleppte, ließdie Schwärmereien von früher wieder in ihm aufleben und veranlaßte ihn zu einer offenenAussprache mit Onkel und Tante. Hierbei gab er dem Onkel die Schuld an all seinem Unglück.Der Onkel hatte sich auf seine Art wirklich in einigen Punkten stark geirrt, aber erblieb sich auch jetzt treu, log nicht, verstellte sich nicht und sagte aus voller Überzeugung,was er dachte und fühlte; wenn seine Worte dem Neffen mehr Schaden als Nutzen brachten,so war daran mehr die beschränkte, krankhafte und verdorbne Natur unseres Helden schuld.Das ist einer von jenen Menschen, die wohl manchmal die Wahrheit erkennen, aber imDrang, zu ihr zu gelangen, entweder nicht bis zu ihr oder über sie hinaus geraten, so daß sienur in ihre Nähe, aber nie eigentlich zu ihr gelangen. Bei seiner Abreise aus Petersburg aufsLand rechnete er mit dem Onkel in Phrasen und Versen ab und rezitierte Puschkins Gedicht:„Mit Träumerhand hat der Barbarenmaler...“ Diese Herrschaften [526] kommen nicht eineStunde ohne Monologe und Verse aus – Schwätzer, die sie sind!Als lebender Leichnam kam er auf dem Lande an; sein moralisches Innenleben war völliggelähmt; sein Äußeres hatte sich stark verändert, seine Mutter erkannte ihn kaum wieder. Erbehandelte sie ehrerbietig, aber kühl, enthüllte und erklärte ihr nichts. Er sah schließlich ein,daß es zwischen ihm und ihr nichts Gemeinsames gab, daß sie, wenn er ihr zu erklären versuchthätte, wo seine schönen Haare hingekommen waren, ebensoviel begriffen haben würdewie Jewsej und Agrafena, die Dienstboten. Die Liebkosungen und Gefälligkeiten der Mutterwurden ihm bald lästig. Die Örtlichkeiten, an denen sich seine Kindheit abgespielt hatte, ließendie Schwärmereien von früher in ihm aufleben, und er begann ihrem unwiederbringlichenVerlust nachzutrauern, indem er meinte, nur Trug und Hirngespinste machten glücklich.Das ist die allgemeine Überzeugung aller gebrechlichen, kraftlosen, unfertigen Naturen. DieErfahrung hatte ihm doch, scheint’s, genügend gezeigt, wie all sein Unglück daher kam, daßer sich an Trug und Träume verloren hatte: er hatte sich eingebildet, ein gewaltiges poetischesTalent zu besitzen, wo er doch keine Spur davon besaß; für irgendeine heroische, aufopferungsvolleFreundschaft und riesengroße Liebe geboren zu sein, wo er doch absolutnichts Heroisches und Aufopferndes an sich hatte. Er war ein ganz gewöhnlicher, aber durchausnicht vulgärer Mensch. Er war gutmütig, liebevoll und nicht dumm, nicht ungebildet; seinOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 311spazierengehen, mit Bekannten und Freunden dinieren, den Abend mit ihnen verbringen zudürfen, daß man schließlich lieben kann, ohne dabei seine Dienststellung aufzugeben. Nachdemer die arme Frau auf die barbarischste Art gepeinigt und ihr die ganze Schuld an demUnglück aufgeladen hatte, an dem er viel mehr schuld hatte als sie – beschloß er endlich, sicheinzugestehen, daß er sie nicht [525] mehr liebe und daß er mit ihr Schluß machen müsse. Sowar nun sein dummes Liebesideal durch die Erfahrung in Trümmer geschlagen. Er mußteselbst seine Unfähigkeit in der Liebe einsehen, von der er sein ganzes Leben lang geschwärmthatte. Er erkannte klar, daß er durchaus kein Held war, sondern ein ganz gewöhnlicherMensch, schlechter als die, die er verachtete, daß er in sich selbst verliebt war, ohne eszu verdienen, anspruchsvoll, ohne ein Recht darauf zu haben, hochmütig, ohne stark zu sein,stolz und von sich eingenommen, ohne Verdienste zu haben, undankbar und egoistisch. DieseEntdeckung traf ihn wie ein Donnerschlag, veranlaßte ihn aber nicht, Aussöhnung mit demLeben zu suchen, den richtigen Weg zu gehen. Er verfiel in tödliche Apathie und beschloß,sich für seine Nichtigkeit an der Natur und der Menschheit dadurch zu rächen, daß er sich mitdem viehischen Kostjakow zusammentat und sich, ohne jede eigentliche Lust, leeren Vergnügungenhingab. Seine letzte Liebesaffäre ist abscheulich. Er ging darauf aus, ein armes,leidenschaftliches Mädchen zugrunde zu richten, einfach so, aus Langerweile, und konntesich bei diesem Anschlag nicht einmal auf die Tollheit sinnlichen Verlangens berufen,obwohl auch das eine schlechte Rechtfertigung ist, besonders wo es dafür einen direkterenund ehrlicheren Weg gibt. Der Vater des Mädchens erteilte ihm eine für seine Eigenliebefurchtbare Lehre: er versprach, ihn zu verprügeln; unser Held wollte sich vor Verzweiflung indie Newa stürzen, war aber zu feige dazu. Ein Konzert, in das ihn seine Tante schleppte, ließdie Schwärmereien von früher wieder in ihm aufleben und veranlaßte ihn zu einer offenenAussprache mit Onkel und Tante. Hierbei gab er dem Onkel die Schuld an all seinem Unglück.Der Onkel hatte sich auf seine Art wirklich in einigen Punkten stark geirrt, aber erblieb sich auch jetzt treu, log nicht, verstellte sich nicht und sagte aus voller Überzeugung,was er dachte und fühlte; wenn seine Worte dem Neffen mehr Schaden als Nutzen brachten,so war daran mehr die beschränkte, krankhafte und verdorbne Natur unseres Helden schuld.Das ist einer von jenen Menschen, die wohl manchmal die Wahrheit erkennen, aber imDrang, zu ihr zu gelangen, entweder nicht bis zu ihr oder über sie hinaus geraten, so daß sienur in ihre Nähe, aber nie eigentlich zu ihr gelangen. Bei seiner Abreise aus Petersburg aufsLand rechnete er mit dem Onkel in Phrasen und Versen ab und rezitierte Puschkins Gedicht:„Mit Träumerhand hat der Barbarenmaler...“ Diese Herrschaften [526] kommen nicht eineStunde ohne Monologe und Verse aus – Schwätzer, die sie sind!Als lebender Leichnam kam er auf dem Lande an; sein moralisches Innenleben war völliggelähmt; sein Äußeres hatte sich stark verändert, seine Mutter erkannte ihn kaum wieder. Erbehandelte sie ehrerbietig, aber kühl, enthüllte und erklärte ihr nichts. Er sah schließlich ein,daß es zwischen ihm und ihr nichts Gemeinsames gab, daß sie, wenn er ihr zu erklären versuchthätte, wo seine schönen Haare hingekommen waren, ebensoviel begriffen haben würdewie Jewsej und Agrafena, die Dienstboten. Die Liebkosungen und Gefälligkeiten der Mutterwurden ihm bald lästig. Die Örtlichkeiten, an denen sich seine Kindheit abgespielt hatte, ließendie Schwärmereien von früher in ihm aufleben, und er begann ihrem unwiederbringlichenVerlust nachzutrauern, indem er meinte, nur Trug und Hirngespinste machten glücklich.Das ist die allgemeine Überzeugung aller gebrechlichen, kraftlosen, unfertigen Naturen. DieErfahrung hatte ihm doch, scheint’s, genügend gezeigt, wie all sein Unglück daher kam, daßer sich an Trug und Träume verloren hatte: er hatte sich eingebildet, ein gewaltiges poetischesTalent zu besitzen, wo er doch keine Spur davon besaß; für irgendeine heroische, aufopferungsvolleFreundschaft und riesengroße Liebe geboren zu sein, wo er doch absolutnichts Heroisches und Aufopferndes an sich hatte. Er war ein ganz gewöhnlicher, aber durchausnicht vulgärer Mensch. Er war gutmütig, liebevoll und nicht dumm, nicht ungebildet; seinOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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