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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 31Sie wollen, meine Herren Karamsinverehrer, aber ich gebe mich lieber dazu her, einen Romandes Baron Brambäus zu lesen als die „Arme Lisa“ oder „Natalja, die Bojarentochter“!Andere Zeiten, andere Sitten! Karamsins Romane haben das Publikum zum Lesen gebracht,viele haben an diesen Büchern sogar lesen gelernt: seien wir also dem Verfasser dankbar;aber lassen wir seine Romane ruhen, ja, reißen wir sie unseren Kindern aus der Hand, dennsie werden bei ihnen nur Schaden anrichten: sie verderben mit ihrer süßlichen Sentimentalitätdas natürliche Empfinden.Darüber hinaus verlieren Karamsins Werke heute auch darum viel von ihrem Reize, weil ersich in ihnen selten aufrichtig und natürlich gab. Das Jahrhundert der Phrase ist für uns imAbklingen; nach unseren Begriffen muß der Satz so aufgebaut werden, daß er Gedanken oderGefühle ausdrückt; früher suchte man Gedanken und Gefühle als Bügel für klingende Phrasenzusammen. Ich weiß, daß wir in dieser Hinsicht auch heute noch nicht ganz frei von Sündensind; aber wenn es auch jetzt nicht schwer ist, Flitter für Gold, gestelzte Gedanken undkrampfige Gefühle für Gedankenspiel und Gefühlsüberschwang auszugeben, so doch nichtfür lange, und je lebhafter die Täuschung war, um so rachsüchtiger wird die Enttäuschung; jeinbrünstiger die falsche Gottheit angebetet wurde, um so grausamer wird die Schmach, dieden Usurpator trifft. Überhaupt ist man heutzutage irgendwie offener; jeder wirklich gebildeteMensch wird lieber zugeben, daß er diese oder jene Schönheit bei einem Verfasser nichtbegreift, als daß er Begeisterung mimt. Daher fände sich heute schwerlich ein Einfaltspinsel,der ehrlich glaubte, Karamsins reichliche Tränengüsse kämen aus dem Herzen und seiennicht bloß eine gern gebrauchte Koketterie seines Talents, bloß Stelzen, deren es sich gewohnheitsmäßigbedient. Diese Verlogenheit und Unnatürlichkeit des Gefühls ist um so bedauerlicher,wenn der Verfasser ein Mann von Talent ist. Es würde niemand einfallen, diesen[53] Mangel beispielsweise dem gefühlvollen Fürsten Schalikow vorzuwerfen, denn es fälltauch niemand ein, seine gefühlstriefenden Werke zu lesen. Autorität ist hier also nicht nurkeine Rechtfertigung, sondern sogar eine doppelte Belastung. Mutet es in der Tat nicht befremdendan, wenn man einen erwachsenen Menschen sieht, auch wenn dieser Mensch Karamsinselbst ist, einen erwachsenen Menschen, der Tränenbäche vergießt sowohl beim Anblickdes schielenden Auges des „großen Mannes der Grammatik“ 32 als auch beim Anblickder unermeßlichen Sanddünen rings um Calais oder über Gräserchen, über Ameischen, Käferchenund Würmerchen... Hier kann man wohl sagen:„Wir können doch beweinen nichtAll Unglück, das die Weit umschließt!“ 33Diese Rührseligkeit – oder richtiger Weinerlichkeit – verdirbt oft die besten Seiten seiner„Geschichte“. Man könnte einwerfen: so war eben das Jahrhundert. Das ist nicht wahr: charakteristischfür das 18. Jahrhundert war keineswegs nur seine Rührseligkeit; außerdem istder gesunde Menschenverstand älter als alle Jahrhunderte, und er verbietet zu weinen, wennman lachen möchte, und zu lachen, wenn man weinen möchte. Das war einfach eine lächerlicheund klägliche Kinderei, eine abstruse und unerklärliche Manie.Nun eine andere Frage: hat Karamsin geleistet, was er leisten konnte, oder weniger? Ich behauptemit Bestimmtheit: weniger. Er war viel auf Reisen: welch unvergleichliche Gelegenheitbot sich ihm, seinen Mitmenschen ein breit entfaltetes, verlockendes Bild von den Früchtenjahrhundertelanger Aufklärung, den Erfolgen der Zivilisation und der Volksbildung beiden edlen Vertretern des Menschengeschlechts zu geben! ... Wie leicht hätte er das tun können!Er hatte ja eine so beredsame Feder! Er genoß doch so großen Kredit bei seinen Zeitgenossen!Und was tat er an Stelle dessen? Was steht in seinen „Briefen eines russischen Rei-32 „Der große Mann der russischen Grammatik“ ist der Titel eines Werkes von N. M. Karamsin.33 Aus Karamsins Märchen „Ilja Muromez“.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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