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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 302ihren Beziehungen zu ihren Verwandten und Bekannten. In den Kleinstädten ist das Lebeneintönig, eng, kleinlich, jeder kennt jeden, und wenn man nicht miteinander verzankt ist, lebtman unbedingt in zärtlichster Freundschaft: neutrale Beziehungen gibt es fast nicht. Und damacht sich nun ein junger Mann aus dem kleinen Städtchen in die Hauptstadt auf, um seinGlück zu suchen; alle nehmen Interesse an ihm, begleiten ihn auf den Weg, wünschen ihmalles Glück und bitten, sie nicht zu vergessen. Er fühlt sich schon ganz heimisch in derHauptstadt, das Heimatstädtchen stellt sich ihm in traumhaftem Nebel dar; unter dem Einflußneuer Eindrücke, neuer Bekanntschaften, Beziehungen und Interessen hat er selbst die Namenund die Gesichter der Leute längst vergessen, die er in seiner Kindheit so gut gekannthat, und erinnert sich nur an die nächsten Angehörigen, und auch sie stellt er sich so vor, wieer sie verlassen hat, und doch haben ja auch sie sich seither verändert. Aus ihren Briefen erkennter, daß er nichts mit ihnen gemein hat; in seinen Antworten paßt er sich an ihren Ton,an ihre Begriffe an; was Wunder, daß er ihnen immer seltener und seltener schreibt undschließlich ganz zu schreiben aufhört. Der Gedanke, daß einer der Verwandten oder Bekanntenin die Hauptstadt zu Besuch kommen könnte, beängstigt ihn ebenso, wie die Bewohnereiner Stadt im Grenzbezirk während eines Krieges bei dem Gedanken zittern, der Feind könnteihre Straße entlang marschieren. In der Hauptstadt hat man kein Verständnis für Liebe ausder Ferne; hier ist man der Meinung, Liebe, Freund-[510]schaft, gute Beziehungen und Bekanntschaftwürden durch persönlichen Umgang aufrechterhalten, kühlten sich aber ab undhörten auf bei Trennung und durch Abwesenheit. In der Provinz denkt man genau umgekehrt;dank der Monotonie des Lebens ist der Hang zu Liebe und Freundschaft dort erstaunlich entwickelt.Dort ist man froh über jedermann; einander im Wege zu stehen, keine Ruhe zu geben,gilt dort als heiligste Pflicht. Wenn jemand nicht mehr von den Verwandten und denBekannten belästigt wird, hält er sich für den unglücklichsten, gekränktesten Menschen derWelt. Wenn zu einem in der Kleinstadt lebenden Provinzler plötzlich eine ganze Horde vonVerwandten und Bekannten angereist kommt und sein Häuschen in ein vollgepfropftes Heringsfäßchenverwandelt, weiß er sich, nach außen hin, vor Freude nicht zu lassen; mit vergnügtemGesicht läuft er geschäftig hin und her, bewirtet den ganzen Schwarm, um ihn innerlichvon ganzem Herzen zu verfluchen. Dabei aber sollen diese Leute nur einmal probieren,bei einer anderen Gelegenheit nicht bei ihm Wohnung zu nehmen: das wird er ihnen nie verzeihen!Das ist eben die patriarchalische Logik der Provinz. Und mit ebenderselben Logikfährt manchmal der Provinzler mit seiner ganzen Familie in Geschäften in die Hauptstadt:Hier hat er einen Verwandten, der schon vor etwa zwanzig Jahren aus seinem Städtchen fortgezogenist und alle seine Verwandten und Bekannten längst gründlich vergessen hat. UnserProvinzler fliegt ihm entgegen mit offenen Armen, mit den lieben Kinderchen, die in Lehranstaltenuntergebracht werden sollen, mit der heißgeliebten Gattin, die kommt, um sich in denhauptstädtischen Modesalons umzusehen. Das schallt nur so von Achs und Ohs, von Geschrei,Gequietsch und Gepiepse. „Und wir sind gleich zu euch, wir konnten uns nicht entschließen,erst in den Gasthof zu gehen!“ Der hauptstädtische Verwandte erbleicht, er weißnicht, was er tun, was er sagen soll; er ist wie der Bewohner einer vom Feind besetzten Stadt,in dessen Haus eine Horde marodierender feindlicher Soldaten eingebrochen ist. Dabei hatman ihm schon ausführlich erklärt, wie sehr man ihn liebt, wie man sich seiner erinnert, wieman immer nur von ihm redet und wie man auf ihn baut, wie fest man überzeugt ist, daß erganz gewiß behilflich sein wird, die kleinen Kostjas, Petjas, Fedjas, Mitjas in einer Militäranstaltund die kleinen Maschas, Saschas, Ljubas und Tanjas in einem Töchterinstitut unterzubringen.Der hauptstädtische Verwandte sieht, daß ein Augenblick über seinen Untergangoder [511] seine Rettung entscheidet, rafft sich auf und erklärt dem feindlichen Detachement ** (bildungssprachlich) [auf Absonderung bedachte] kühle Distanzhaltung; (Militär veraltet) für besondere Aufgabenabkommandierte TruppenabteilungOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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