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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 301weder ihnen noch auch dem Leser irgendwelche moralische Lehren; er scheint zu denken, jederkommt für sein Unglück selber auf, was geht’s mich an? Von allen heutigen Schriftstellernnähert er allein, und nur er allein, sich dem Ideal der reinen Kunst, während alle anderen sichvon ihm unendlich weit entfernt haben – und eben dadurch Fortschritte machen. Alle heutigenSchriftsteller haben noch etwas mehr als Talent, und dieses „etwas“ ist wichtiger als das Talentselbst und macht seine Stärke aus; Herr Gontscharow hat nichts als Talent; er ist mehr als irgendjemand sonst heutzutage, eigentlich künstlerischer Dichter. Sein Talent ist nicht erstklassig,aber stark und bemerkenswert. Zu seinen Besonderheiten gehört eine ungewöhnlicheMeisterschaft in der Zeichnung weiblicher Charaktere. Er wiederholt sich nie, keine einzigeseiner Frauen erinnert an eine andere, und alle sind als Porträt hervorragend. Was hat die grobe,böse, aber auf ihre Art auch zärtlicher Gefühle fähige Agrafena mit der schwärmerischen, nervösenDame [508] der großen Welt zu tun? Und jede von ihnen ist in ihrer Art ein meisterhaftesKunstwerk. Die Mutter des jungen Adujew und die Mutter der jungen Nadja sind beide alteFrauen, beide sehr gütig, lieben beide ihre Kinder heiß und fügen beide ihren Kindern gleichermaßenSchaden zu; schließlich sind beide dumm und trivial. Dabei sind diese beiden Figurenjedoch völlig verschieden: die eine ist eine Gnädige aus der Provinz, aus dem vorigen Jahrhundert,sie liest nichts und versteht nichts als den Kleinkram der Wirtschaft: kurz, sie ist eine braveEnkelin der bösen Frau Prostakowa; die andere ist eine hauptstädtische gnädige Frau, liestfranzösische Bücher, versteht nichts als den Kleinkram der Wirtschaft, kurz, sie ist eine braveUrenkelin der bösen Frau Prostakowa. In der Darstellung solcher platter, trivialer Personen,denen jede Selbständigkeit und jede Originalität fehlt, zeigt sich manchmal das Talent besondersgut, weil nichts schwerer ist, als sie durch irgendwelche besondere Züge kenntlich zu machen.Was hat die leichtlebige, eigensinnige und ein bißchen hinterlistige Nadjenka gemein mitder äußerlich ruhigen, aber von einem inneren Feuer verzehrten Lisa? Die Tante des Romanheldenist eine eingeschobene und nur beiläufig skizzierte Figur – aber was für eine prachtvolleweibliche Gestalt! Wie prächtig ist sie in der Szene, die den ersten Teil des Romans abschließt!Wir wollen nicht weiter auf die Meisterschaft eingehen, mit der die männlichen Charaktereumrissen sind: die weiblichen konnten wir nicht unerwähnt lassen, weil bisher selbst erstklassigenTalenten bei uns selten Ähnliches gelungen ist; bei unseren Schriftstellern ist die Frau entwederein süßlich-sentimentales Wesen oder ein Seminarist in Rock und Bluse mit papiernenPhrasen auf den Lippen. Die Frauen des Herrn Gontscharow sind lebendige, wirklichkeitstreueGeschöpfe. Das ist etwas Neues in unserer Literatur.Wenden wir uns den beiden männlichen Hauptpersonen des Romans zu, dem jungen Adujewund seinem Onkel Pjotr Iwanytsch: über diesen muß man unbedingt ein paar Worte sagen,wenn von jenem die Rede ist, denn durch seine Gegensätzlichkeit läßt er den Helden desRomans noch markanter hervortreten. Man sagt, der junge Adujew sei ein veralteter Typ;man sagt, derartige Charaktere gäbe es im heutigen Rußland bereits nicht mehr. Nein, solcheCharaktere sind noch nicht ausgestorben und werden nie aussterben, denn sie sind nicht immernur ein Produkt der Lebensumstände, sondern manchmal der Natur selbst. Ihr Stammvaterist in Rußland [509] Wladimir Lenski, der in grader Linie von Goethes Werther herkommt.Puschkin hat als erster das Vorhandensein derartiger Naturen in unserer Gesellschaftentdeckt und auf sie hingewiesen. Im Laufe der Zeit werden sie sich ändern, aber im Wesenwerden sie stets die gleichen bleiben... In Petersburg angekommen, schwärmt der junge Adujewdavon, mit welcher Freude er seinen hochverehrten Onkel in die Arme schließen und wiebegeistert der Onkel ihn aufnehmen wird. Er nimmt im Gasthaus Aufenthalt – und fürchtet,der Onkel könnte böse sein, daß er nicht direkt zu ihm gefahren ist. Die kühle Aufnahmedurch den Onkel läßt seine provinziellen Träume verfliegen. Bis hierhin ist der junge Adujewmehr Provinzler als Romantiker. Er war sogar unangenehm davon berührt, daß der OnkelSajesshalow einen Esel und die Tante vom Lande, mit ihrer gelben Blume, eine dumme Gansnannte und ihre Briefe als erzdumm bezeichnete. Die Provinzler sind oft höchst komisch inOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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