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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 298schuld?“ eigentlich kein Roman, sondern eine Reihe von Biographien, die meisterhaft geschriebenund durch eben jenen Gedanken, den der Autor nicht poetisch zu entwickeln vermochthat, geschickt äußerlich miteinander verbunden sind. Diese Biographien haben jedochauch ein inneres Band, allerdings ganz ohne Beziehung zu der tragischen Liebe zwischenBeltow und Kruzifkersaja. Das ist der Gedanke, der ihnen tief zugrunde liegt, jedem Zug,jedem Wort der Erzählung Leben und Seele gibt und ihr jene überzeugende, fesselnde Kraftvermittelt, die gleich unwiderstehlich auf alle Leser wirkt, mögen sie mit dem Autor übereinstimmenoder nicht, gebildet oder ungebildet sein. Dieser Gedanke tritt beim Autor als Gefühl,als Leidenschaft in Erscheinung, kurz, aus seinem Roman läßt sich ersehen, daß erebensosehr das Pathos seines eigenen Lebens wie das seines Romans bildet. Wovon er auchreden, wodurch er sich auch zu Abschweifungen verleiten lassen mag – nie vergißt er diesenGedanken, kehrt unablässig zu ihm zurück, scheint ihn ungewollt immer wieder aussprechenzu müssen. Der Gedanke ist eins mit seinem Talent; in ihm liegt seine Stärke. Könnte er diesemGedanken gegenüber gleichgültig werden, sich von ihm lossagen – er würde plötzlichsein Talent verlieren. Welches ist nun dieser Ge-[503]danke? Er ist das Leiden, der Schmerzangesichts mißachteter, absichtlich und mehr noch unabsichtlich gekränkter Menschenwürde;er ist das, was die Deutschen Humanität 21 nennen. Wem der Gedanke, der in diesem Wortenthalten ist, unverständlich erscheint, der wird in den Werken Iskanders die beste Erklärungfür ihn finden. Von dem Wort selbst sei gesagt, daß die Deutschen es aus dem lateinischenWort humanus gebildet haben, was „menschlich“ bedeutet. Hier ist es als Gegensatz zu „tierisch“genommen. Wenn ein Menschmit anderen Menschen umgeht, wie der Mensch mitseinen Nächsten, seinen Brüdern im Dasein, umgehen soll, handelt er human; im entgegengesetztenFall handelt er, wie es dem Tier zukommt. Humanität ist Menschenliebe, aber einedurch Wissen und Bildung entwickelte Menschenliebe. Ein Mensch, der eine arme Waisenicht aus Berechnung, nicht um sich zu brüsten, erzieht, sondern aus dem Wunsch, eine guteTat zu vollbringen – der sie erzieht wie sein leibliches Kind, sie zugleich aber spüren läßt,daß er ihr Wohltäter ist, sich für sie in Ausgaben stürzt usw. usw., ein solcher Mensch verdientnatürlich, gut, moralisch und menschenfreundlich, aber keinesfalls human genannt zuwerden. Er besitzt viel Gefühl und Liebe, aber sie sind in ihm nicht bewußt entwickelt, liegenunter einer groben Rinde. Sein grober Verstand kommt gar nicht auf die Vermutung, daß diemenschliche Natur zarte, empfindliche Seiten hat, die man behutsam behandeln muß, um denMenschen auch unter den glücklichsten äußeren Umständen nicht unglücklich zu machenoder um einen Menschen, der bei humanerer Behandlung etwas Ordentliches werden könnte,nicht grob, nicht gemein werden zu lassen, aber wie viele solcher Wohltäter gibt es doch aufder Welt, Wohltäter, die die Objekte ihrer reichlichen Wohltaten quälen und manchmal auchzugrunde richten, ganz ohne böse Absicht, manchmal aus rechter Liebe, aus dem demütigenWunsch, ihnen Gutes zu tun – und die sich dann ehrlich darüber wundern, daß ihnen statt mitAnhänglichkeit und Achtung mit Kälte, Gleichgültigkeit und Undankbarkeit, sogar mit Haßund Feindschaft, vergolten wird oder daß aus ihren Zöglingen Tunichtgute werden, währendsie ihnen doch die allermoralischste Erziehung haben zuteil werden lassen. Wie viele Väterund Mütter gibt es, die ihre Kinder wirklich auf ihre Art lieben, aber ihre heilige Pflicht darinsehen, ihnen ständig vor Augen zu halten, daß sie ihren Erzeugern sowohl ihr Leben als auchihre Kleidung und ihre Erziehung verdanken. Die Unglücklichen ahnen gar nicht, daß [504]sie sich selbst ihrer Kinder berauben, indem sie sie in eine Art Findlinge oder Waisen verwandeln,die sie aus dem Gefühl der Wohltätigkeit heraus zu sich genommen haben. Sie dösenruhig auf der Sittenregel dahin, daß die Kinder ihre Eltern lieben sollen, und wiederholenspäter, im Alter, seufzend die abgeklapperte Sentenz, von Kindern sei nichts als Undank zu21 Nach diesen Zeilen zu urteilen, ist das Lehnwort „Humanität“ durch niemand anders als Belinski in die russischeSprache eingeführt und zum erstenmal ausführlich erläutert worden.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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