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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 295als die irgendeiner anderen Kunst. Darum kann sich auch der Dichter nicht auf das Malen,das Zeichnen nach dem Leben allein beschränken, worüber wir übrigens schon früher gesprochenhaben. Aber wie groß auch immer die anderen hervorragenden, Begeisterung undStaunen erregenden Qualitäten seiner Schöpfung sein mögen – ihre Hauptstärke liegt dennochin der poetischen Malerei. Der Dichter besitzt die Fähigkeit, schnell alle Formen desLebens zu erfassen, sich in jeden Charakter, in jede Persönlichkeit zu versetzen – und dazubraucht er weder Erfahrung noch Studium, ihm genügt vielmehr manchmal nur eine Andeutung,ein schneller Blick. Zwei, drei Tatsachen – und seine Phantasie rekonstruiert eine ganze,besondere, in sich abgeschlossene Lebewelt mit allen ihren Umständen und Beziehungen,mit ihrem eignen Kolorit, ihren eignen Nuancen. So hat es Cuvier durch die Wissenschaft zuder Kunst gebracht, aus einem einzigen aufgefundenen Knochen im Geiste den ganzen Organismusdes Tiers zu rekonstruieren, von dem er stammt. Aber hier war ein Genie am Werk,das sich an der Wissenschaft entfaltet hatte und von ihr unterstützt wurde; der Dichter dagegenstützt sich vorwiegend auf sein Gefühl, seinen poetischen Instinkt.Eine andere Kategorie von Dichtern, diejenige, von der wir eingangs gesprochen haben undzu der der Verfasser des Romans „Wer ist schuld?“ gehört, vermag getreu nur jene Seiten desLebens darzustellen, die aus irgendeinem Grunde ihr Denken besonders frappiert haben undihnen besonders vertraut sind. Sie können nicht verstehen, daß es Genuß bringen kann, Wirklichkeitserscheinungennur dazu getreu wiederzugeben, um sie getreu wiederzugeben. Für[498] ein solches, nach ihrer Meinung müßiges Bemühen fehlt ihnen sowohl die Lust wie dieGeduld. Ihnen ist nicht der Gegenstand wichtig, sondern der Sinn des Gegenstandes – und beiihnen blitzt die Inspiration nur dazu auf, um durch getreue Wiedergabe des Gegenstandesdessen Sinn für jedermann offenbar und verbindlich zu machen. Bei ihnen steht mithin einbestimmter, klar erkannter Zweck allem voran, und die Poesie ist ihnen nur das Mittel, umdiesen Zweck zu erreichen. Die ihrem Talent zugängliche lebendige Welt ist deshalb durchihre eignen intimsten Gedanken, durch ihre Lebensauffassung bestimmt; das ist der magischeZirkel, den sie nicht ungestraft, d. h. ohne Verlust ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit poetischgetreu darzustellen, überschreiten dürfen. Man nehme ihnen diesen sie beseelenden Gedanken,man lasse sie ihre Auffassung von den Dingen aufgeben – und sie werden auch keinTalent mehr haben; der eigentlich künstlerische Dichter dagegen behält sein Talent immer,solange rings um ihn Leben brodelt, wie immer es beschaffen sein mag.Was ist nun der intimste Gedanke Iskanders, der Gedanke, der ihm als Quelle seiner Inspirationdient und ihn in der getreuen Darstellung von Erscheinungen des Gesellschaftslebensmanchmal bis zu echt künstlerischer höhe aufsteigen läßt? – Es ist der Gedanke der Menschenwürde,die durch Vorurteile und Ignoranz erniedrigt und gekränkt wird, und zwar balddurch Ungerechtigkeiten eines Menschen seinem Nächsten gegenüber, bald durch freiwilligeSelbstaufgabe. Der Held aller Romane und Erzählungen Iskanders, soviel er ihrer schreibenmag, war stets und wird stets der gleiche sein: es ist – der Mensch als allgemeiner, als Gattungsbegriff,in der ganzen Weite dieses Wortes, mit der ganzen Heiligkeit seiner Bedeutung.Iskander ist vorwiegend ein Dichter der Humanität. Deswegen gibt es in seinem Roman eineUnmenge von Personen, die größtenteils meisterhaft gezeichnet sind, aber keinen eigentlichenHelden, keine Heldin. Im ersten Teil führt er uns, nachdem er unser Interesse für dasEhepaar Negrow geweckt hat, Kruziferski und die junge Ljuba als Helden des Romans vor.In der Episode, die zur Verbindung des ersten und des zweiten Teils eingeschaltet ist, tritt alsHeld Beltow auf; aber die Mutter Beltows und sein Genfer Hauslehrer interessieren den Leservielleicht noch mehr als Beltow selbst. Im zweiten Teil erscheinen als Helden Beltow undKruziferskaja, und erst in diesem Teil erschließt sich ganz der Grundgedanke des Romans,der sich [499] anfangs so rätselhaft in seinem Titel: „Wer ist schuld?“ ankündigt. Wir müssenjedoch gestehen, daß dieser Grundgedanke uns an dem Roman am wenigsten interessiert,OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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