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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 293aber Erfindungen der Phantasie mit der streng historischen Darstellung dessen zu tun, waswirklich geschehen ist? Sehr viel – nämlich die künstlerische Form der Darlegung! Nichtumsonst werden ja die Historiker Künstler genannt. Was hat, sollte man meinen, die Kunst(im eigentlichen Sinn) dort zu tun, wo der Schriftsteller durch Quellen und [494] Tatsachengebunden ist und sich nur darum zu bemühen hat, diese Tatsachen möglichst getreu wiederzugeben?Aber das ist es eben, daß eine getreue Wiedergabe der Tatsachen mit Hilfe bloßerumfassender Sachkenntnis unmöglich ist, daß sie vielmehr auch Phantasie verlangt. Die inden Quellen enthaltenen historischen Tatsachen sind nicht mehr als Steine und Ziegel: nur einKünstler kann aus diesem Material ein schönes Gebäude errichten. In unserem ersten Aufsatzsprachen wir bereits davon, daß sich ohne schöpferisches Talent ebensowenig die Natur getreukopieren wie auch eine naturähnliche Fabel erfinden läßt. Die Annäherung der Kunst andas Leben und der erfundenen Fabel an die Wirklichkeit ist in unserer Zeit besonders im historischenRoman zum Ausdruck gekommen. Von hier war dann nur ein Schritt bis zu einerrichtigen Wertung der Memoiren, in denen die Skizzen von Charakteren und Personen eineso große Rolle spielen. Wenn diese Skizzen lebendig und fesselnd sind, so heißt das, daß sienicht Kopien oder Abschriften darstellen, die stets blaß und nichtssagend bleiben, sondernkünstlerische Wiedergaben der Personen und der Ereignisse sind. So schätzt man auch diePorträts Van Dycks, Tizians und Velazquez’, ohne danach zu fragen, wen diese Porträts darstellen:man schätzt sie als Gemälde, als Kunstwerke. So groß ist die Macht der Kunst: einGesicht, das an sich durchaus nicht bemerkenswert ist, erhält dank der Kunst allgemeine Bedeutung,die für jedermann gleich interessant ist, und auf einen Menschen, dem zu seinenLebzeiten niemand Aufmerksamkeit schenkte, blicken Jahrhunderte, weil der Künstler ihmdie Gnade erwiesen hat, ihm durch seinen Pinsel neues Leben zu verleihen. Das gleiche giltsowohl von den Memoiren als auch von den einfachen Erzählungen und Schriften aller Art,in denen die Natur kopiert wird. Welchen Grad der Wert eines solchen Werkes erreicht, hängtvon dem Grad des Talents ab, das der Schriftsteller besitzt. Und man kann in einem Buchesein Vergnügen an einem Menschen haben, dem man ungern irgendwo begegnen würde, denman vielleicht stets als ein höchst langweiliges, hohles Geschöpf gekannt haben mag. Ästhetenvon dazumal behaupten, „die Poesie darf nicht zur Malerei * werden, weil in der Malereialles auf die [495] richtige Darstellung des in einem bestimmten Moment erfaßten Gegenstandesankommt“. Aber wenn die Poesie darangeht, Personen, Charaktere, Ereignisse –kurz: Bilder aus dem Leben darzustellen, so versteht es sich von selbst, daß sie dann die gleichePflicht auf sich nimmt wie die Malerei, nämlich der Wirklichkeit treu zu sein, die wiederzugebensie unternommen hat. Und diese Wirklichkeitstreue ist die oberste Forderung unddie erste Aufgabe der Poesie. Das poetische Talent eines Autors muß vor allem danach beurteiltwerden, wieweit er dieser Forderung gerecht wird und diese Aufgabe löst. Wenn er keinMaler ist, so ist dies das deutliche Anzeichen dafür, daß er auch kein Dichter ist, daß er überhauptkein Talent hat. Daß die Poesie jedoch nicht nur Malerei sein darf, das ist wieder etwasanderes, und auch das läßt sich nicht leugnen. In den Bildern des Dichters muß ein Gedankeliegen; der Eindruck, den er hervorruft, muß auf den Geist des Lesers wirken, muß seinerAuffassung von bestimmten Seiten des Lebens diese oder jene Richtung geben. Dazu eignensich der Roman und die Erzählung und ihnen verwandte Werke ganz besonders. Ihnen istvornehmlich die Aufgabe zugefallen, das öffentliche Leben in Bildern darzustellen, das Gesellschaftslebenpoetisch zu analysieren.Das vergangene Jahr 1847 war besonders reich an bemerkenswerten Romanen und Erzählungenaller Art. Dem riesigen Erfolg nach, den sie beim Publikum hatten, stehen an erster Stelle* Das russische Wort für Malerei (shíwopis) bedeutet buchstäblich: Zeichnung nach dem Leben. Diese Nuancedes Wortes, die hier und in den folgenden Sätzen von Bedeutung ist, geht bei der Übersetzung unvermeidlichverloren. – Der Übers.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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