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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 289kompliziert war; aber heutzutage hat eine solche Auffassung nicht einmal die Entschuldigungeines originellen netten Unsinns für sich. Man sagt, Dickens habe mit seinen Romanen wesentlichzur Verbesserung des Erziehungswesens in England beigetragen, in dem bis dahinalles auf unbarmherzigen Prügelstrafen und barbarischer Behandlung der Kinder beruhte. Wasist übel daran, fragen wir, wenn Dickens in diesem Falle als Dichter gehandelt hat? Verlierenseine Romane deshalb etwa an ästhetischer Qualität? Hier liegt ein offenbares Mißverständnisvor: man sieht, daß Kunst und Wissenschaft nicht dasselbe sind, sieht aber nicht, daß ihr Unterschieddurchaus nicht im Inhalt liegt, sondern nur in der Art, wie der gegebene Inhalt bearbeitetwird. Der Philosoph redet in Syllogismen, der Dichter in Gestalten und Bildern, aber siereden beide ein und dasselbe. Der Theoretiker der politischen Ökonomie beweist mit statistischenZahlen in der Hand, indem er auf den Verstand seiner Leser oder Hörer einwirkt, daßdie Lage einer gewissen Gesellschaftsklasse sich infolge dieser oder jener Ursachen stark verschlechtertoder bedeutend verbessert hat. An Hand einer lebendigen, klaren Darstellung derWirklichkeit zeigt der Dichter, indem er auf die Phantasie seiner Leser einwirkt, in einemwahrheitsgetreuen Bild, daß die Lage einer bestimmten Gesellschaftsklasse sich aus diesenoder jenen Ursachen wirklich stark verbessert oder verschlechtert hat. Der eine beweist, derandere zeigt, aber beide überzeugen, nur tut es der eine durch logische Schlußfolgerungen, derandere durch Bilder. Aber jenen hören und verstehen wenige, diesen – alle. Das höchste undheiligste Interesse der Gesellschaft ist ihr eigenes Wohlergehen, das sich gleichmäßig auf jedesihrer Mitglieder erstreckt. Der Weg zu diesem Wohlergehen führt über das Bewußtwerden,dem Bewußtwerden aber kann die Kunst nicht weniger förderlich sein [488] als die Wissenschaft.Hier sind sowohl Wissenschaft als auch Kunst gleichermaßen vonnöten, und wederkann die Wissenschaft die Kunst ersetzen noch die Kunst die Wissenschaft.Eine schlechte, falsche Auffassung der Wahrheit hebt die Wahrheit selbst nicht auf. Wennwir hin und wieder Leuten, sogar klugen, in bester Absicht handelnden Leuten begegnen, diesich daranmachen, soziale Probleme in poetischer Form darzulegen, ohne von Natur aus auchnur einen Funken poetischer Begabung zu besitzen, so bedeutet das durchaus noch nicht, daßderartige Probleme nichts mit Kunst zu tun haben und sie zugrunde richten. Wenn derartigeLeute auf die Idee kämen, sich der reinen Kunst zu widmen, so würde ihr Fall sich noch eklatanteroffenbaren. Schlecht war z. B. der heute längst vergessene Roman „Pan Podstolitsch“,der vor mehr als zehn Jahren herauskam und mit dem löblichen Zweck geschrieben war, einBild vom Zustand der bjelorussischen Bauern zu geben – aber er war auch nicht ganz ohneNutzen, und manch einer hat ihn gelesen, wenn er sich auch schrecklich dabei langweilte. 17Natürlich hätte der Autor sein edles Ziel besser erreicht, wenn er den Inhalt seines Romans inder Form von Aufzeichnungen oder Bemerkungen eines Beobachters dargelegt hätte, ohnesich auf das Gebiet der Poesie zu begeben; hätte er sich aber darangemacht, einen rein poetischenRoman zu schreiben, so hätte er sein Ziel noch weniger erreicht. Heutzutage sind vieleLeute gebannt durch das Zauberwörtchen „Tendenz“; sie meinen, das sei das ganze Geheimnis,und begreifen nicht, daß in der Sphäre der Kunst erstens keine Tendenz einen Pfifferlingwert ist ohne Talent und zweitens die Tendenz nicht nur im Kopfe des Schreibenden liegenmuß, sondern vor allem in seinem Herzen, in seinem Blut, daß sie vor allem Gefühl, Instinktsein muß und dann erst, wenn nötig, wohl auch bewußter Gedanke – daß man für sie, dieseTendenz, ebenso geboren werden muß wie für die Kunst selbst. Eine angelesene oder aufgefangeneund möglicherweise sogar gehörig verstandene Idee, die nicht durch die eigene Naturdes Schreibenden hindurchgegangen ist, nicht das Gepräge seiner Persönlichkeit erhalten hat,ist totes Kapital, nicht nur für die poetische, sondern auch für jede andere literarische Wirksamkeit.Man kopiere die Natur, soviel man will, man würze diese Kopien mit fertigen Ideenund wohlgemeinten „Tendenzen“ – wenn kein poetisches Talent dabei ist, werden diese Ko-17 Gemeint ist der aus dem Polnischen übersetzte Roman „Pan Podstolitsch, ein Provinzroman“ von F. Massalski.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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