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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 287sind, die miteinander nichts gemein haben und einander nicht ähneln. Die Madonna Raffaelsist eine streng klassische und nicht im geringsten romantische Gestalt. Ihr Gesicht drückt jeneSchönheit aus, die selbständig besteht, ohne ihren Zauber irgendeinem moralischen Ausdruckin ihrem Gesicht zu entlehnen. Im Gegenteil, in diesem Gesicht läßt sich nichts lesen. DasGesicht der Madonna atmet ebenso wie ihre ganze Gestalt unaussprechlichen Adel und Würde.Das ist eine Königstochter, die tief durchdrungen ist von dem Bewußtsein sowohl ihreshohen Ranges als auch ihres persönlichen Werts. In ihrem Blick liegt etwas Strenges, <strong>Zur</strong>ückhaltendes,keine Güte und Milde, aber auch kein Stolz, keine Verachtung, sondern statt allesdessen eine Art von Herablassung, die sich ihrer Größe bewußt bleibt. Das ist, man möchtesagen, das idéal sublime du comme il faut. * Aber kein Schatten von irgend etwas Unfaßbarem,Geheimnisvollem, Nebelhaftem, Flimmerndem – kurz, nichts Romantisches; im Gegenteil,alles ist so exakt, so klar bestimmt, so vollendet, so streng richtig und genau umrissen undzugleich so edel, so hervorragend gemalt. Eine religiöse Auffassung kommt in diesem Gemäldenur in dem Gesicht des göttlichen Knaben zum Ausdruck, aber eine Auffassung, die nurdem Katholizismus jener Zeit eigen war. In der Haltung des Knaben, in den Händen, die sichden vor ihm Stehenden (ich meine die Betrachter des Bildes) entgegenstrecken, in den weitgeöffnetenPupillen seiner Augen erkennt man Zorn und Drohung, in der leicht vorgeschobenenUnterlippe aber stolze Verachtung. Das ist nicht der Gott der Verzeihung und der Gnade, nichtdas Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nimmt – das ist ein rächender und strafenderGott... Daraus läßt sich erkennen, daß auch die Figur des Knaben nichts Romantisches an sichhat; im Gegenteil, sein Ausdruck ist so einfach und bestimmt, so leicht faßlich, daß man sofortklar versteht, was man sieht. Höchstens in den Gesichtern der Engel, die eine ungewöhnlichausdrucksvolle Verständigkeit zeigen und in die Anschauung der göttlichen Erscheinung vertieftsind, läßt sich etwas Romantisches finden. 15Es liegt am nächsten, die sogenannte reine Kunst bei den Grie-[485]chen zu suchen. Wirklichwar die Schönheit, die das wesentliche Element der Kunst bildet, wohl das vorherrschendeElement im Leben dieses Volkes. Deshalb kommt seine Kunst dem Ideal der sogenanntenreinen Kunst näher als jede andere. Dennoch war die Schönheit in ihr mehr die wesentlicheForm jeden Inhalts als der Inhalt selbst. Den Inhalt gaben ihr sowohl die Religion als auchdas öffentliche Leben, jedoch stets mit sichtlichem Überwiegen der Schönheit. Demnachstände also die griechische Kunst dem Ideal der absoluten Kunst nur näher, ohne daß man siejedoch absolute, d. h. von den anderen Seiten des Lebens der Nation unabhängige Kunst nennenkönnte. Man beruft sich gewöhnlich auf Shakespeare und besonders auf Goethe als aufRepräsentanten der freien, reinen Kunst; das ist jedoch einer der am wenigsten passendenHinweise. Daß Shakespeare ein gewaltiges schöpferisches Genie, der Dichter par excellenceist, daran besteht kein Zweifel; wenig versteht ihn jedoch, wer nur seine Poesie sieht undnicht den reichen Inhalt, die unerschöpfliche Fundgrube von Lehren und Tatsachen für denPsychologen, den Philosophen, den Historiker, den Staatsmann usw. Shakespeare drückt allespoetisch aus, aber was er ausdrückt, gehört bei weitem nicht nur der Poesie an. Es ist überhauptcharakteristisch für die neuere Kunst, daß der Inhalt die Form an Bedeutung überwiegt,während für die antike Kunst das Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form charakteristischwar. Die Berufung auf Goethe ist noch weniger angebracht als die Berufung auf Shakespeare.Wir wollen das an zwei Beispielen zeigen. Der „Sowremennik“ hat im vergangenen Jahr dieÜbersetzung von Goethes „Wahlverwandtschaften“ veröffentlicht, über die man auch in Ruß-* ???15 Während seiner Auslandsreise im Jahre 1847 war Belinski zweimal in Dresden: vom 15. bis 19. Mai und vom5. bis 9. Juli (alten Stils). Bei seinem ersten Aufenthalt besuchte er zweimal die Gemäldegalerie, wo er u. a. dieberühmte Sixtinische Madonna sah. Offenbar besuchte er die Galerie auch bei seinem zweiten Aufenthalt. Überden Eindruck, den das Gemälde auf ihn machte, siehe seinen Brief an W. P. Botkin vom 7. (19.) Juli 1847, S.558 der vorliegenden Ausgabe.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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