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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 278stellen, was einem behagt, verlangt jedoch, den dargestellten Gegenstand so zu verzieren, daßsich beim besten Willen nicht mehr erkennen läßt, was gemeint ist. Der Dichter, der sichstreng an ihre Vorschriften hält, kann es weiterbringen als der von Dmitrijew verewigte MalerJefrem, der dem Porträt Archips die Züge Sidors und dem Porträt des Lukas die Züge Kusmas[469] gab: er kann euch den Archip so abkonterfeien, daß er nicht nur nicht dem Sidor, sondernüberhaupt nichts auf der Welt ähnlich sieht, nicht einmal einem Erdenkloß. Die NaturaleSchule folgt der genau entgegengesetzten Regel: eine möglichst große Ähnlichkeit der dargestelltenFigur mit ihrem Vorbild in der Wirklichkeit ist zwar nicht das Ein-und-Alles, aberdoch ihre erste Forderung, ohne deren Erfüllung ein Werk nicht geraten kann. Das ist eineharte Forderung, die nur das echte Talent erfüllen kann! Wie sollen danach die Schriftsteller,die sich einst auch ohne Talent mit Erfolg auf dem Felde der Poesie tummeln konnten, die altePoetik nicht lieben und in Ehren halten? Wie sollten sie nicht in der Naturalen Schule ihrenärgsten Feind sehen, wo diese doch eine Schreibweise eingeführt hat, zu der sie es nie würdenbringen können? Das bezieht sich natürlich nur auf Leute, bei denen in dieser Frage die Eigenliebemitspricht; es finden sich aber auch viele, die aus ehrlicher Überzeugung, weil sie unterdem Einfluß der alten Poetik stehen, in der Kunst keine Natürlichkeit lieben. Diese Leute beklagensich besonders bitterlich darüber, daß die Kunst heutzutage ihre einstige Bestimmungvergessen habe. „Es gab eine Zeit“ – sagen sie –‚ „da hat die Poesie den Leser belehrt undergötzt und dazu gebracht, die Nöte und Leiden des Lebens zu vergessen, und ihm nur angenehme,lächelnde Bilder vor Augen geführt. Die Poeten von einst haben auch Bilder der Armutdargeboten, einer Armut jedoch, die fein säuberlich und gut gewaschen war und sich bescheidenund edel ausdrückte; außerdem erschien am Ende des Romans stets eine gefühlvollejunge Dame oder Jungfer, die Tochter reicher, adliger Eltern, oder aber auch wohl ein tugendhafterjunger Mann – und sie ließen im Namen des oder der Geliebten Wohlstand und Glückdort einziehen, wo Armut und Elend geherrscht hatten, und Tränen der Dankbarkeit netztendie Hand des Wohltäters – und der Leser hob unwillkürlich sein Batisttüchlein an die Augenund fühlte sich besser und empfindsamer werden... Und heutzutage? – Man sehe nur, was dazusammengeschrieben wird! Bauern in Bastschuhen und Röcken aus hausgewebtem Tuch, oftriecht man schon aus der Ferne den Fusel, ein Weib wie ein Zentaur, an der Kleidung läßt sichnicht gleich erkennen, welchen Geschlechts das Wesen ist; dunkle Winkel, Brutstätten desElends, der Verzweiflung und des Lasters, zu denen man durch knietiefen Schmutz über denHinterhof gehen muß; irgendein versoffner Amtsschreiber oder ein aus dem Dienst [470] gejagterLehrer, ein ehemaliger Seminarist – das Ganze in so schrecklich nackter Wahrheit nachder Natur kopiert, daß einem nach dem Lesen nachts die schrecklichsten Träume kommen...“So, oder annähernd so, reden die ehrwürdigen Zöglinge der alten Poetik. Im wesentlichen laufenihre Klagen darauf hinaus, daß die Poesie aufgehört hat, schamlos zu lügen, daß sie sichaus einem Kindermärchen in eine nicht immer angenehme Erzählung aus dem Leben gewandelthat, daß sie keine Kinderklapper mehr ist, bei deren Klang man ebenso angenehm herumhüpfenwie einschlafen kann. Kuriose Leute, glückliche Leute! Sie haben es fertiggebracht, ihrganzes Leben lang Kinder zu bleiben und selbst im Greisenalter als infantile Jünglinge herumzulaufen– und nun verlangen sie, daß alle Welt ihnen gleicht! So lest dann ruhig eure altenMärchen – niemand wird euch daran hindern; laßt .aber die anderen sich mit Dingen beschäftigen,die für Erwachsene passen. Euch die Lüge, uns die Wahrheit: trennen wir uns ohneStreit, ihr könnt unser Teil ohnehin nicht gebrauchen, und wir wollen das eure auch nicht geschenkt...Aber dieser schiedlich-friedlichen Teilung steht etwas anderes im Weg – ein Egoismus,der sich als Tugend ausgibt. In der Tat, man stelle sich einen wohlsituierten, vielleichtreichen Mann vor, er hat eben ein angenehmes, schmackhaft zubereitetes Mittagessen hintersich (sein Koch ist vorzüglich), hat mit einer Tasse Kaffee in dem bequemen Voltairesesselam Kaminfeuer Platz genommen, er fühlt sich warm und behaglich, das Bewußtsein seinesWohlergehens macht ihn vergnügt – und nun greift er zu einem Buch, blättert träge die SeitenOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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