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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 276sie nur von einem russischen Dichter geschrieben werden konnten und daß ein Dichter eineranderen Nation sie nicht hätte schreiben können? Die russische Wirklichkeit darstellen, unddazu mit solcher erstaunlicher Wahrheitstreue, das kann natürlich nur ein russischer Dichter.Und eben hierin äußert sich vorläufig am meisten der Volksgeist in unserer Literatur.Unsere Literatur war die Frucht bewußter Denkarbeit, trat als Neuerung auf, begann alsNachahmung. Aber sie blieb hierbei nicht stehen, sondern strebte ständig nach Originalität,bemühte sich um den Volksgeist, war bestrebt, aus einer rhetorischen zu einer natürlichenKunst zu werden. Dieses Streben, das durch ständige, bedeutende Erfolge ausgezeichnet war,bildet nun den Sinn und die Seele der Geschichte unserer Literatur, und wir können ohneÜberlegen sagen, daß dieses Streben in keinem einzigen russischen Schriftsteller zu solchemErfolg gelangt ist wie in Gogol. Das war nur dadurch möglich, daß die Kunst sich, unter Umgehungaller Ideale, ausschließlich an die Wirklichkeit wandte. Dazu war es notwendig, alle[466] Aufmerksamkeit der Menge, der Masse zuzuwenden, Durchschnittsmenschen darzustellenund nicht nur angenehme Ausnahmen von der allgemeinen Regel, die den Dichterstets zur Idealisierung verführen und den Stempel des Fremden tragen. Hier liegt das großeVerdienst Gogols, aber eben das rechnen die Leute von herkömmlicher Bildung ihm alsfurchtbares Verbrechen gegen die Gesetze der Kunst an. Er hat damit die Auffassung von derKunst selbst völlig verändert. Auf die Werke jedes einzelnen der russischen Dichter kannman, wenn auch nicht immer ohne weiteres, die alte, hinfällig gewordene Definition der Poesieals der „verschönerten Natur“ anwenden, in bezug auf die Werke Gogols jedoch ist dasbereits unmöglich. Auf sie paßt eine andere Definition der Kunst – als der Wiedergabe derWirklichkeit in ihrer ganzen Wahrheit. Hier kommt alles auf die Typen an, und das Ideal wirdhier nicht als Verschönerung (also als Lüge), sondern als die Beziehungen verstanden, in dieder Autor die von ihm geschaffenen Typen entsprechend dem Gedanken setzt, den er in seinemWerk entwickeln will.Die Kunst hat in unseren Tagen die Theorie überholt. Die alten Theorien haben jeden Kreditverloren; selbst Leute, die in ihnen erzogen wurden, halten sich nicht mehr an sie, sondernfolgen einem sonderbaren Gemisch von alten und neuen Begriffen. So haben z. B. einige vonihnen, die die alte französische Theorie im Namen der Romantik ablehnten, als erste das ansteckendeBeispiel gegeben, in ihren Romanen Figuren aus den unteren Ständen, ja sogar Halunkenauftreten zu lassen, zu denen Namen wie Worowatin und Noshow („Dieberich“ und„Messermann“) paßten, aber sie haben das dann dadurch wiedergutgemacht, daß sie nebenden amoralischen Figuren auch moralische mit Namen wie Prawdoljubow, Blagotworow(„Wahrlieb“, „Wohltat“) und dergleichen auftreten ließen. 8 Im ersten Falle war der Einfluß derneuen Ideen spürbar, im zweiten der der alten, denn nach dem Rezept der alten Poetik mußtenauf ein paar Dumm. köpfe wenigstens ein Gescheiter und auf ein paar Halunken wenigstensein tugendhafter Mensch verabfolgt werden. * Aber in beiden Fällen hatten diese Zwitterwesenganz und gar die Hauptsache aus dem Auge verloren, d. h. die Kunst, weil sie gar nicht einmaldarauf kamen, daß sowohl ihre tugendsamen wie ihre lasterhaften Figuren [467] gar keineMenschen, gar keine Charaktere waren, sondern rhetorische Verkörperungen abstrakter Tugendenund Laster. Das erklärt auch besser als alles andere, warum ihnen die Theorie, die Regelwichtiger ist als die Sache, das Wesen: das letztere bleibt ihnen überhaupt unverständlich.Dem Einfluß der Theorie können sich übrigens auch Talente, sogar geniale, nicht immer entziehen.Gogol gehört zu jenen wenigen, die jedem Einfluß jeder Art von Theorie völlig entgangensind. Befähigt, die Kunst zu verstehen und in den Werken anderer Dichter zu bewun-8 „Worowatin, Noshow, Prawdoljubow, Blagotworow usw.“ sind die Namen von Personen aus F. W. BulgarinsRonran „Iwan Wyshigin“.* Damals war das Wort Räsoneur für die Komödie ebenso ein technischer Fachausdruck wie jeune premier, derErste Liebhaber, oder die Primadonna für die Oper. – W. B.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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