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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 270ern zu zerstreuen und sie dann für immer zu vergessen. Das hat natürlich nichts Schlechtes ansich. Der eine liebt das Schaukeln, der andere das Reiten, ein dritter das Schwimmen und einvierter das Rauchen, und viele lesen außerdem noch gerne gut erzählte alberne Märchen.Deshalb können die Übersetzungsromane und -erzählungen heute die Originalwerke schonnicht mehr in den Schatten stellen; der allgemeine Geschmack des Publikums zieht vielmehrdie letzteren entschieden vor, so daß die Zeitschriftenherausgeber zur vorwiegenden Veröffentlichungvon übersetzten Romanen und Erzählungen nur durch äußerste Not gezwungenwerden, d. h. durch den Mangel an Originalwerken dieser Art. Und diese Tendenz im Geschmackdes Publikums wird von Jahr zu Jahr merklicher und bestimmter. Was die Originalwerkeselbst betrifft, so ist der Zauber der großen Namen völlig verschwunden; ein berühmterName läßt natürlich auch heute jeden nach dem neuen Werk greifen, aber niemand wird heutemehr über dies Werk in Entzücken geraten, wenn einzig der Name des Autors an ihm gutist. Mittelmäßige, schwache Werke bleiben unbeachtet und sterben eines natürlichen Todes,nicht aber unter dem Messer eines Kritikers. Dieser Lage der Literatur, die sich so stark vonjener unterscheidet, in der sie sich vor zwanzig Jahren befand, muß auch die Kritik entsprechen.Ein Rechenschaftsbericht über das literarische Schaffen eines Jahres braucht sich heutenicht immer um die Quantität der Werke zu kümmern oder sich darum zu bemühen, jede Einzelerscheinungzu beurteilen aus der Sorge heraus, das [456] Publikum könnte ohne Hinweisvon seiten der Kritik am Ende nicht Wissen, was es für gut und was es für schlecht haltensoll. Man braucht sich nicht einmal bei jedem ordentlichen Werk aufzuhalten und sich aufeine ausführliche Untersuchung aller seiner Schönheiten und Mängel einzulassen. Mit solcherAufmerksamkeit verdienen heute nur Werke behandelt zu werden, die in Positivem oder negativemSinn besonders bemerkenswert sind. Die Hauptaufgabe ist jetzt, auf die vorherrschendeTendenz, den allgemeinen Charakter der Literatur in der gegebenen Zeit hinzuweisen,in ihren Erscheinungen den Gedanken aufzuspüren, der sie belebt und antreibt. Nur aufdiese Weise kann man, wenn nicht bestimmen, so doch andeuten, inwieweit das vergangeneJahr die Literatur vorwärtsgebracht, welchen Fortschritt sie in ihm erreicht hat.Etwas Hervorragendes, eigentlich Neues hat das Jahr 1847 in der Literatur nicht gebracht.Erschienen sind in neuem Gewande einige der alten periodischen Veröffentlichungen. Erschienenist sogar ein neues Blatt; an bemerkenswerten Werken der schönen Literatur wardas vergangene Jahr im Vergleich mit den vorhergehenden besonders reich; erschienen sindeinige neue Namen, neue Talente und Beflissene der verschiedenen Literaturfächer. Abernicht erschienen ist auch nur eines jener ausgesprochen hervorragenden Werke, deren Erscheinenin der Geschichte der Literatur Epoche macht und ihr eine neue Richtung gibt. Dasist der Grund, warum wir sagen, daß das vergangene Jahr nichts Hervorragendes, eigentlichNeues gebracht hat. Die Literatur ist ihren früheren Weg weitergegangen, den man weder neunennen kann, weil er sich schon deutlich herausgeprägt hat, noch alt, weil er sich der Literaturerst vor allzu kurzer Zeit aufgetan hat – nämlich etwas früher, als irgend jemand zum erstenmaldas Wort „Naturale Schule“ prägte. 4 Seit jener Zeit bestand der Fortschritt der russischenLiteratur in jedem neuen Jahr darin, daß sie mit immer festerem Schritt in dieser Richtungweiterging. Das abgelaufene Jahr 1847 zeichnete sich in dieser Hinsicht im Vergleichmit den vorhergehenden Jahren besonders aus, sowohl durch die Zahl und die Bedeutung derdieser Richtung treuen Werke als auch durch eine größere Bestimmtheit, Bewußtheit undStärke der Richtung selbst und den größeren Kredit, den sie beim Publikum fand.Die Naturale Schule steht jetzt im Vordergrund der russischen Literatur. Einerseits könnenwir sagen, ohne aus irgendeiner partei-[457]ischen Neigung im geringsten zu übertreiben,4 Die Bezeichnung „Naturale Schule“ wurde zum erstenmal von F. W. Bulgarin mit der Absicht in Umlauf gesetzt,die Schriftsteller der Gogolschen Richtung herabzusetzen.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 271daß das Publikum, d. h. die Mehrheit der Leser, für sie ist: das ist eine Tatsache und keineVermutung. Die gesamte literarische Wirksamkeit ist heute in den Zeitschriften konzentriert,und welche Zeitschriften erfreuen sich größerer Berühmtheit, haben einen weiteren Leserkreisund einen größeren Einfluß auf die Meinung des Publikums als jene, in denen die Werkeder Naturalen Schule zum Abdruck kommen? Welche Romane und Erzählungen liest dasPublikum mit besonderem Interesse, wenn nicht jene, die der Naturalen Schule angehören,oder, besser gesagt, liest das Publikum überhaupt Romane und Erzählungen, die nicht zurNaturalen Schule gehören? Welche Kritik erfreut sich eines größeren Einflusses auf die Meinungdes Publikums, oder, besser gesagt, welche Kritik steht mehr im Einklang mit der Meinungund dem Geschmack des Publikums, wenn nicht jene, die für die Naturale Schule undgegen die rhetorische auftritt: Über wen wird andrerseits unaufhörlich geredet und gestritten,wer wird unermüdlich wütend angegriffen, wenn nicht die Naturale Schule? Parteien, dienichts miteinander gemein haben, gehen in ihren Angriffen gegen die Naturale Schule einmütigHand in Hand, schreiben ihr Auffassungen zu, die ihr völlig fremd sind, Absichten, die sienie gehabt hat, verdrehen und mißdeuten jedes ihrer Worte, jeden ihrer Schritte, überschüttensie jetzt, zuweilen allen Anstand vergessend, mit dem wildesten Geschimpfe, um sich dannbeinahe mit Tränen im Auge über sie zu beklagen. Was haben die geschworenen Feinde Gogols,die Repräsentanten der besiegten rhetorischen Richtung, mit den sogenannten Slawophilengemein? – Nichts! – Und doch fallen diese, die Gogol als den Begründer der NaturalenSchule anerkennen, im völligen Einklang mit jenen im gleichen Ton, mit den gleichen Worten,mit den gleichen Beweisen über die Naturale Schule her und halten es für nötig, sich vonihren neuen Verbündeten einzig durch logische Inkonsequenz zu unterscheiden, der zufolgesie Gogol eben das als Verdienst anrechnen, was sie an seiner Schule verfolgen, und zwar mitder Begründung, Gogol schreibe aus einer Art „Bedürfnis zu innerer Reinigung“. Dazukommt noch, daß die der Naturalen Schule feindlich gesinnten Schulen nicht imstande sind,auch nur irgendein bemerkenswertes Werk vorzuweisen, das durch die Tat beweisen würde,daß man nach Regeln, die denen der Naturalen Schule entgegengesetzt sind, auch gut schreibenkann. Alle ihre Versuche in dieser Richtung führten nur zum Triumph des Naturalismus[458] und zum Verfall des Rhetorismus. Angesichts dieser Tatsache haben einige der Gegnerder Naturalen Schule versucht, sie mit ihren eigenen Autoren zu schlagen. So ist eine Zeitungauf den Einfall gekommen, die Autorität Gogols selbst mit Herrn Butkow zu vernichten... 5Das alles ist durchaus nicht neu in unserer Literatur, sondern war schon mehr als einmal daund wird immer so sein. Karamsin hat als erster eine Spaltung der damals eben erst entstandenenrussischen Literatur herbeigeführt. Vor ihm war alle Welt in allen literarischen Fragenderselben Meinung, und wenn es Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten gab, so entsprangensie nicht aus verschiedenen Auffassungen und Überzeugungen, sondern aus derkleinlichen, nervösen Eigenliebe Tredjakowskis und Sumarokows. Aber diese Einmütigkeitbewies nur die Unlebendigkeit der damaligen sogenannten Literatur. Karamsin machte sie alserster lebendig, weil er sie aus den Büchern ins Leben, aus der Schule in die Öffentlichkeithinausführte. Damals bildeten sich natürlicherweise auch Parteien, entbrannte ein Federkrieg,wurden Klagen laut, Karamsin und seine Schule richteten die russische Sprache zugrunde undbrächten den guten russischen Sitten Schaden. In Gestalt seiner Gegner schien das hartnäckigealte Rußland sich wieder aufzulehnen, das sich mit so krampfhafter und um so mehr fruchtloserAnstrengung gegen die Reform Peters des Großen zur Wehr gesetzt hatte. Aber die Mehrheitwar auf seiten des Rechts, d. h. des Talents und der zeitgenössischen moralischen Erfordernisse,das Geheul der Gegner ging unter in den Lobeshymnen der Anhänger Karamsins.Alles gruppierte sich um ihn, und von ihm erhielt alles seine Bedeutung und seine Bedeutsam-5 Den Versuch, „die Autorität Gogols selbst mit Herrn Butkow zu vernichten“, hatte F. W. Bulgarin in einemFeuilleton mit dem Titel „Zeitschriften-Allerlei“ unternommen.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 270ern zu zerstreuen und sie dann für immer zu vergessen. Das hat natürlich nichts Schlechtes ansich. Der eine liebt das Schaukeln, der andere das Reiten, ein dritter das Schwimmen und einvierter das Rauchen, und viele lesen außerdem noch gerne gut erzählte alberne Märchen.Deshalb können die Übersetzungsromane und -erzählungen heute die Originalwerke schonnicht mehr in den Schatten stellen; der allgemeine Geschmack des Publikums zieht vielmehrdie letzteren entschieden vor, so daß die Zeitschriftenherausgeber zur vorwiegenden Veröffentlichungvon übersetzten Romanen und Erzählungen nur durch äußerste Not gezwungenwerden, d. h. durch den Mangel an Originalwerken dieser Art. Und diese Tendenz im Geschmackdes Publikums wird von Jahr zu Jahr merklicher und bestimmter. Was die Originalwerkeselbst betrifft, so ist der Zauber der großen Namen völlig verschwunden; ein berühmterName läßt natürlich auch heute jeden nach dem neuen Werk greifen, aber niemand wird heutemehr über dies Werk in Entzücken geraten, wenn einzig der Name des Autors an ihm gutist. Mittelmäßige, schwache Werke bleiben unbeachtet und sterben eines natürlichen Todes,nicht aber unter dem Messer eines Kritikers. Dieser Lage der Literatur, die sich so stark vonjener unterscheidet, in der sie sich vor zwanzig Jahren befand, muß auch die Kritik entsprechen.Ein Rechenschaftsbericht über das literarische Schaffen eines Jahres braucht sich heutenicht immer um die Quantität der Werke zu kümmern oder sich darum zu bemühen, jede Einzelerscheinungzu beurteilen aus der Sorge heraus, das [456] Publikum könnte ohne Hinweisvon seiten der Kritik am Ende nicht Wissen, was es für gut und was es für schlecht haltensoll. Man braucht sich nicht einmal bei jedem ordentlichen Werk aufzuhalten und sich aufeine ausführliche Untersuchung aller seiner Schönheiten und Mängel einzulassen. Mit solcherAufmerksamkeit verdienen heute nur Werke behandelt zu werden, die in Positivem oder negativemSinn besonders bemerkenswert sind. Die Hauptaufgabe ist jetzt, auf die vorherrschendeTendenz, den allgemeinen Charakter der Literatur in der gegebenen Zeit hinzuweisen,in ihren Erscheinungen den Gedanken aufzuspüren, der sie belebt und antreibt. Nur aufdiese Weise kann man, wenn nicht bestimmen, so doch andeuten, inwieweit das vergangeneJahr die Literatur vorwärtsgebracht, welchen Fortschritt sie in ihm erreicht hat.Etwas Hervorragendes, eigentlich Neues hat das Jahr 1847 in der Literatur nicht gebracht.Erschienen sind in neuem Gewande einige der alten periodischen Veröffentlichungen. Erschienenist sogar ein neues Blatt; an bemerkenswerten Werken der schönen Literatur wardas vergangene Jahr im Vergleich mit den vorhergehenden besonders reich; erschienen sindeinige neue Namen, neue Talente und Beflissene der verschiedenen Literaturfächer. Abernicht erschienen ist auch nur eines jener ausgesprochen hervorragenden Werke, deren Erscheinenin der Geschichte der Literatur Epoche macht und ihr eine neue Richtung gibt. Dasist der Grund, warum wir sagen, daß das vergangene Jahr nichts Hervorragendes, eigentlichNeues gebracht hat. Die Literatur ist ihren früheren Weg weitergegangen, den man weder neunennen kann, weil er sich schon deutlich herausgeprägt hat, noch alt, weil er sich der Literaturerst vor allzu kurzer Zeit aufgetan hat – nämlich etwas früher, als irgend jemand zum erstenmaldas Wort „Naturale Schule“ prägte. 4 Seit jener Zeit bestand der Fortschritt der russischenLiteratur in jedem neuen Jahr darin, daß sie mit immer festerem Schritt in dieser Richtungweiterging. Das abgelaufene Jahr 1847 zeichnete sich in dieser Hinsicht im Vergleichmit den vorhergehenden Jahren besonders aus, sowohl durch die Zahl und die Bedeutung derdieser Richtung treuen Werke als auch durch eine größere Bestimmtheit, Bewußtheit undStärke der Richtung selbst und den größeren Kredit, den sie beim Publikum fand.Die Naturale Schule steht jetzt im Vordergrund der russischen Literatur. Einerseits könnenwir sagen, ohne aus irgendeiner partei-[457]ischen Neigung im geringsten zu übertreiben,4 Die Bezeichnung „Naturale Schule“ wurde zum erstenmal von F. W. Bulgarin mit der Absicht in Umlauf gesetzt,die Schriftsteller der Gogolschen Richtung herabzusetzen.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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