Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
von max.stirner.archiv.leipzig.de Mehr von diesem Publisher
13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 254auszeichnet, mit einem Motto, möglichst einem lateinischen, zu verzieren, wie etwa: Homosum, et nihil humani a me alienum puto * . Aber weder Gelehrsamkeit noch ein lateinischesMotto, noch selbst gründliche Kenntnis der lateinischen Sprache können einem Menschendas geben, was die Natur ihm versagt hat, und die sogenannte „moderne Richtung“ der Dichtereiner gewissen Größenklasse wird immer nur „gebannten Denkens Regung“ bleiben.So ist es gekommen, daß ein halber Analphabet, der Viehhändler Kolzow, ohne Wissen undBildung, den Weg gefunden hat, ein ungewöhnlicher, eigenartiger Dichter zu werden. Er wurdeDichter, ohne selbst zu wissen wie, und starb in der ehrlichen Überzeugung, daß es ihmvielleicht zwar gelungen sei, zwei, drei anständige Stückchen zu schreiben, daß er aber dennochein mittelmäßiger, dürftiger Poet gewesen sei... Die Begeisterung und das Lob derFreunde stärkten sein Selbstvertrauen nur wenig... Lebte er heute noch, so würde er zum erstenmaldie Freude eines Menschen genießen, der sich seines Werts sicher bewußt ist; aber dasSchicksal hat ihm diese berechtigte Belohnung für so viele Qualen und Zweifel vorenthalten...Da wir über die Dichtung Kolzows nicht mehr sagen können, als was hierüber bereits in demAufsatz „Über das Leben und die Werke Kolzows“ gesagt ist, der in der Ausgabe seiner WerkeAufnahmen gefunden hat, so verweisen wir diejenigen, die ihn nicht gelesen haben, abergern unsere Meinung über das Talent Kolzows und seine Bedeutung für die russische Literaturkennen möchten, auf diesen Aufsatz.[429] Unter den Verswerken, die nicht in Einzelausgaben, sondern in verschiedenen Veröffentlichungendes vorigen Jahres erschienen sind, verdienen Beachtung: die Erzählung „DerGutsherr“ (im „Petersburger Sammelband“) und das Poem „Andrej“ (in den „OtetschestwennyjeSapiski“) – beide von Herrn Turgenjew; Herrn Maikows Poem „Maschenka“ (im„Petersburger Sammelband“); Shakespeares „Macbeth“, in Versen und Prosa übersetzt vonHerrn Kroneberg. Bemerkenswerte kleinere Gedichte hat es im vorigen Jahr, wie überhauptin letzter Zeit, sehr wenige gegeben. Die besten von ihnen stammen aus der Feder der HerrenMaikow, Turgenjew und Nekrassow.Über die Gedichte des letzteren hätten wir mehr zu sagen, wenn das Verhältnis des Dichterszu unserer Zeitschrift es nicht entschieden verböte...Nebenbei ein paar Worte über die Versübersetzungen klassischer Werke. Herr A. Grigorjewhat die „Antigone“ von Sophokles übersetzt („Lesebibliothek“ Nr. 8). Viele unserer Literatenhaben die üble Angewohnheit, mit geheimnisvoller Wichtigtuerei über längst bekannte Dingezu reden und sich mit dreister Sicherheit an Arbeiten zu machen, die ihnen absolut nicht liegen.In dem kurzen Vorwort zu seiner Übersetzung verkündet Herr Grigorjew, er werde zugegebener Zeit „seine Auffassung von der griechischen Tragödie darlegen“, eine Auffassung,„deren besonderer Grundgedanke übrigens ihr unmittelbarer Zusammenhang mit der Lehreder alten Mysterien ist“. Das wissen doch die Kinder in den unteren Gymnasialklassen! Undda ist z. B. noch eine Idee, daß nämlich nur in der „Antigone“ der Kampf zweier Prinzipiendes menschlichen Lebens in Erscheinung trete – des Rechts und der Pflicht der Persönlichkeitund des Rechts und der Pflicht der Allgemeinheit, und daß infolgedessen in der „Antigone“durch die antiken Formen hindurch der Hauch der Ahnung eines anderen Lebens wehe – dieseIdee ist ausschließliches Eigentum des Herrn Grigorjew, und wir sind gern bereit, sie ihmzu lassen. Was die „Antigone“ selbst angeht, so würde sich Sophokles – „die attische Biene“– in dieser flüchtigen, prätentiösen und äußerst ungenauen Übersetzung des Herrn Grigorjewschwerlich wiedererkennen. Der majestätische antike Würdenträger (der sechsfüßige Jambus)hat sich in eine Art zerhackter, unregelmäßiger Prosa verwandelt, die an die neuesten „dramatischenVorstellungen“ unserer hausbackenen Dramatiker erinnert; die melodischen Chöre* Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 255erscheinen [430] als hohle, nichtssagende Wortansammlungen, die oft jeden Sinnes bar sind;von dem Kolorit der Antike, von einer Charakteristik jeder einzelnen Figur ist nicht das geringstezu spüren * . Es fragt sich, wozu und für wen Herr Grigorjew sich abgemüht hat? AmEnde nur, um uns die ohnehin nicht sehr große Lust für das klassische Altertum zu nehmen,mit dem er so unüberlegt umspringt...Von belletristischer Prosa sind in Einzelausgaben im vergangenen Jahr nur zwei Werke erschienen:Herrn Sagoskins Roman „Der Brynsker Wald, eine Episode aus den ersten Jahren der HerrschaftPeters des Großen“, und der zweite Teil der „Petersburger Höhen“ des Herrn Butkow.Der neue Roman des Herrn Sagoskin zeigt alle üblen und alle guten Seiten seiner früherenRomane. Einesteils ist er eine neue – wir wissen schon nicht mehr die wievielte – Nachahmungvon Herrn Sagoskins erstem Roman, „Juri Miloslawski“. Aber der Held des letztenRomans ist noch farbloser und unpersönlicher als der Held des ersten. Über die Heldinschweigt man besser: das ist überhaupt keine Frau, und am allerwenigsten eine russische Frauvom Ende des 17. Jahrhunderts. Dem Aufbau der Fabel nach erinnert der „Brynsker Wald“ andie sentimentalen Romane und Erzählungen des vorigen Jahrhunderts. Der StrelitzenhauptmannLjowschin entbrennt in romanhafter Liebe zu einer überirdischen Jungfrau, mit der ihndas Schicksal in einer Herberge zusammenführt. Bereits im ersten Teil des Romans erfährtman, daß der Bojar Bujnossow im Brynsker Wald, wo er auf der Durchreise mit seiner ausfünfzig Knechten bestehenden Suite haltgemacht hatte, um auszuruhen, seine minderjährigeTochter verloren hat. Nachdem man das weiß, errät man sofort, daß die ideale Jungfrau, dieLjowschin bezaubert, die Tochter Bujnossows ist, und erfährt damit auch, wie die Geschichteweitergehen und wie der Roman enden wird. Die Liebe der beiden Täubchen wird uns in denabgedroschnen Phrasen der Dutzendromane des vorigen Jahrhunderts vorgeführt, in Phrasen,die einem russischen Menschen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als noch nichteinmal das berühmte Büchlein, betitelt: „Exempel, wie allerley Complimente zu schreybenseyen...“ erschienen war, überhaupt nicht in den Sinn kommen konnten. Zu den schwachenSeiten des Romans gehört auch eine bestimmte Tendenz, die aus der Vorliebe [431] des Autorsentspringt, über die Sitten und Gebräuche der alten Zeit, selbst die läppischsten, rohestenund barbarischsten, in Begeisterung zu geraten und sie bei jeder möglichen und unmöglichenGelegenheit gegen die Sitten und Gebräuche von heute auszuspielen. Dieser Mangel ist übrigensnicht schlimm: dort, wo der Autor die alte Zeit unglaubwürdig, unrichtig, schwachzeichnet, ruft er bei dem Leser nichts als Langeweile hervor; dort dagegen, wo er die „gutealte Zeit“ in ihrer wahren Gestalt als talentierter Schriftsteller darstellt, erzielt er immer dasgenaue Gegenteil von dem, was er beabsichtigt, d. h. er treibt dem Leser grade die Meinungaus, die er ihm beibringen will, und umgekehrt. Und das sind die besten Seiten des Romans,die mit bemerkenswertem Talent geschrieben und hochinteressant sind, wie z. B. die Schilderungdes Landamts und das Porträt des ehrenwerten Amtsschreibers Anufri Trifonytsch; dieErzählung des Gutsverwalters Bujnossows davon, wie dessen Tochter unter den Augen vonsieben Ammen und an die fünfzig Dienstboten verlorenging, und besonders das Bild desSchiedsgerichts auf tatarische Manier, bei dem in Gestalt des Bojaren Kurodawlew und derzwei Bäuerlein, die zu ihm kommen, um ihren Streit auszutragen, die ganze Pracht einigerSitten der alten Zeit vorgeführt wird. Zu den guten Seiten von Herrn Sagoskins neuem Romansind noch die im allgemeinen nicht übel, stellenweise sogar hervorragend gezeichnetenCharaktere der Sektierer zu rechnen: die Gestalten Andrej Pomorjanins, des Mönchs Pafnuti,des Geistlichen Philipp und des Einsiedlers sowie die Figur des Bojaren Kurodawlew, derfreiwillig zum Märtyrer des Rangdünkels wird. Aber am besten ist Andrej Pomorjanin ge-* Ganz zu schweigen von den zahllosen Schnitzern; nach Herrn Grigorjews Meinung ist die Betonung von Ares(Mars) – Ars u. a. m. – W. B.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 254auszeichnet, mit einem Motto, möglichst einem lateinischen, zu verzieren, wie etwa: Homosum, et nihil humani a me alienum puto * . Aber weder Gelehrsamkeit noch ein lateinischesMotto, noch selbst gründliche Kenntnis der lateinischen Sprache können einem Menschendas geben, was die Natur ihm versagt hat, und die sogenannte „moderne Richtung“ der Dichtereiner gewissen Größenklasse wird immer nur „gebannten Denkens Regung“ bleiben.So ist es gekommen, daß ein halber Analphabet, der Viehhändler Kolzow, ohne Wissen undBildung, den Weg gefunden hat, ein ungewöhnlicher, eigenartiger Dichter zu werden. Er wurdeDichter, ohne selbst zu wissen wie, und starb in der ehrlichen Überzeugung, daß es ihmvielleicht zwar gelungen sei, zwei, drei anständige Stückchen zu schreiben, daß er aber dennochein mittelmäßiger, dürftiger Poet gewesen sei... Die Begeisterung und das Lob derFreunde stärkten sein Selbstvertrauen nur wenig... Lebte er heute noch, so würde er zum erstenmaldie Freude eines Menschen genießen, der sich seines Werts sicher bewußt ist; aber dasSchicksal hat ihm diese berechtigte Belohnung für so viele Qualen und Zweifel vorenthalten...Da wir über die Dichtung Kolzows nicht mehr sagen können, als was hierüber bereits in demAufsatz „Über das Leben und die Werke Kolzows“ gesagt ist, der in der Ausgabe seiner WerkeAufnahmen gefunden hat, so verweisen wir diejenigen, die ihn nicht gelesen haben, abergern unsere Meinung über das Talent Kolzows und seine Bedeutung für die russische Literaturkennen möchten, auf diesen Aufsatz.[429] Unter den Verswerken, die nicht in Einzelausgaben, sondern in verschiedenen Veröffentlichungendes vorigen Jahres erschienen sind, verdienen Beachtung: die Erzählung „DerGutsherr“ (im „Petersburger Sammelband“) und das Poem „Andrej“ (in den „OtetschestwennyjeSapiski“) – beide von Herrn Turgenjew; Herrn Maikows Poem „Maschenka“ (im„Petersburger Sammelband“); Shakespeares „Macbeth“, in Versen und Prosa übersetzt vonHerrn Kroneberg. Bemerkenswerte kleinere Gedichte hat es im vorigen Jahr, wie überhauptin letzter Zeit, sehr wenige gegeben. Die besten von ihnen stammen aus der Feder der HerrenMaikow, Turgenjew und Nekrassow.Über die Gedichte des letzteren hätten wir mehr zu sagen, wenn das Verhältnis des Dichterszu unserer Zeitschrift es nicht entschieden verböte...Nebenbei ein paar Worte über die Versübersetzungen klassischer Werke. Herr A. Grigorjewhat die „Antigone“ von Sophokles übersetzt („Lesebibliothek“ Nr. 8). Viele unserer Literatenhaben die üble Angewohnheit, mit geheimnisvoller Wichtigtuerei über längst bekannte Dingezu reden und sich mit dreister Sicherheit an Arbeiten zu machen, die ihnen absolut nicht liegen.In dem kurzen Vorwort zu seiner Übersetzung verkündet Herr Grigorjew, er werde zugegebener Zeit „seine Auffassung von der griechischen Tragödie darlegen“, eine Auffassung,„deren besonderer Grundgedanke übrigens ihr unmittelbarer Zusammenhang mit der Lehreder alten Mysterien ist“. Das wissen doch die Kinder in den unteren Gymnasialklassen! Undda ist z. B. noch eine Idee, daß nämlich nur in der „Antigone“ der Kampf zweier Prinzipiendes menschlichen Lebens in Erscheinung trete – des Rechts und der Pflicht der Persönlichkeitund des Rechts und der Pflicht der Allgemeinheit, und daß infolgedessen in der „Antigone“durch die antiken Formen hindurch der Hauch der Ahnung eines anderen Lebens wehe – dieseIdee ist ausschließliches Eigentum des Herrn Grigorjew, und wir sind gern bereit, sie ihmzu lassen. Was die „Antigone“ selbst angeht, so würde sich Sophokles – „die attische Biene“– in dieser flüchtigen, prätentiösen und äußerst ungenauen Übersetzung des Herrn Grigorjewschwerlich wiedererkennen. Der majestätische antike Würdenträger (der sechsfüßige Jambus)hat sich in eine Art zerhackter, unregelmäßiger Prosa verwandelt, die an die neuesten „dramatischenVorstellungen“ unserer hausbackenen Dramatiker erinnert; die melodischen Chöre* Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!