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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 250schlechten als die guten Seiten des Nationalgeistes eines Volkes zum Ausdruck bringen kann,weil sie ein künstliches Leben lebt, wenn sie sich der Mehrheit als etwas von ihr Abgesondertesund ihr Fremdes gegenübersteht. Das sehen wir auch im modernen Frankreich am Beispieldes heute dort herrschenden Standes, der Bourgeoisie. Was schließlich die großen Männerbetrifft, so sind sie vornehmlich Kinder ihres Landes. Der [422] große Mann ist stets nationalwie sein Volk, denn er ist ebendeshalb groß, weil er sein Volk repräsentiert. Der Kampf zwischenGenie und Volk ist nicht ein Kampf zwischen dem Menschlichen und dem Nationalen,sondern einfach zwischen dem Neuen und dem Alten, zwischen Idee und Empirismus, zwischenVernunft und Vorurteilen. Die Masse richtet sich stets nach der Gewohnheit und hältnur das für vernünftig, wahr und nützlich, woran sie gewöhnt ist. Sie verteidigt mit zäher Wutjenes Alte, gegen das sie, ein Jahrhundert oder weniger zuvor, mit ebenso zäher Wut als gegendas Neue gekämpft hat. Der Widerstand der Masse gegen das Genie ist eine Notwendigkeit:sie stellt damit das Genie auf die Probe: wenn es sich trotz alledem durchsetzt, so bedeutet das,daß es wirklich Genie ist, das heißt, daß es die Berechtigung in sich trägt, auf die Geschickeseines Vaterlandes einzuwirken. Andernfalls würde jeder Schwätzer, jeder Schwärmer, jederPhilosoph, jeder kleine große Mann mit dem Volk umspringen wie mit einem Pferd und esnach seiner Laune und seiner Phantasie bald hierhin, bald dahin lenken... 7Das Volk hat es durchaus nicht nötig, sich in sich selbst zu teilen, um sich eine Quelle fürneue Ideen zu verschaffen. Die Quelle alles Neuen ist das Alte; wenigstens wird das Neuedurch das Alte vorbereitet. Was am Genie frappiert, ist nicht so sehr seine Fähigkeit, Neueszu finden, sondern der Mut, mit dem es das Neue dem Alten entgegenstellt und den Kampfauf Leben und Tod zwischen ihnen entbrennen läßt. Die Notwendigkeit von Neuerungenempfanden in Rußland bereits die Vorgänger Peters; sie wurde deutlich gemacht durch diedamalige Lage des Staates; aber die Reform durchzuführen, vermochte nur Peter. Dazubrauchte er sich durchaus nicht feindlich gegen sein Volk zu stellen; er mußte es im Gegenteilvielmehr kennen und lieben, mußte sich seiner angeborenen Einheit mit ihm bewußt sein.Was im Volke unbewußt als Möglichkeit lebt, tritt im Genie als Verwirklichung, als Wirklichkeit,zutage. Das Volk verhält sich zu seinen großen Männern wie der Boden zu denPflanzen, die aus ihm hervorgehen. Wir haben hier Einheit, nicht aber Getrenntsein, Dualismusvor uns. Und entgegen den Syllogisten (ein neues Wort!) gibt es für einen großen Dichterkeine größere Ehre, als im höchsten Grade national zu sein, denn anders kann er gar nichtgroß sein. Das, was die Schwätzer „das Menschliche“ nennen und dem Nationalen gegenüberstellen,ist im Grunde das Neue, das [423] unmittelbar und logisch aus dem Alten hervorgeht,auch wenn es seine glatte Negation ist. Wenn irgendein Prinzip in seinem Extrem biszur Absurdität getrieben wird, gibt es nur einen natürlichen Ausweg – den Übergang zumentgegengesetzten Extrem. Das liegt in der Natur sowohl des Menschen wie der Völker.Folglich liegt die Quelle jeden Fortschritts, jeder Bewegung nach vorwärts nicht in einerZwiegespaltenheit der Völker, sondern in der menschlichen Natur, in der auch die Quelle füralles Abgehen von der Wahrheit, für Erstarren und Stillstand liegt.Ob eine theoretische Frage wichtig ist, hängt von ihrer Beziehung zur Wirklichkeit ab. Fragen,die für uns Russen noch wichtig sind, haben in Europa bereits längst ihre Lösung gefunden,stellen dort längst schon einfache Lebenswahrheiten dar, an denen niemand zweifelt,über die niemand streitet, in denen alle übereinstimmen. Und diese Fragen sind – das ist dasBeste daran – dort durch das Leben selbst gelöst worden, oder doch mit Hilfe der Wirklichkeit,wenn die Theorie an ihrer Lösung beteiligt war. – Das soll uns aber durchaus nicht denMut und die Lust nehmen, uns an die Lösung solcher Fragen heranzumachen, denn solange7 Dieser und der nächste Absatz dienen der Polemik gegen V. N. Maikow.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 251wir sie nicht selbst und für uns lösen, werden wir nichts davon haben, daß sie in Europa gelöstsind. Auf den Boden unseres Lebens übertragen, sind diese Fragen die gleichen und dochandere und erfordern andere Lösungen. – Heute beschäftigen neue große Fragen 8 Europa.Wir können und wir müssen uns natürlich für sie interessieren und sie verfolgen, weil unsnichts Menschliches fremd sein darf, wenn wir Menschen sein wollen. Zugleich wäre es abervöllig fruchtlos, wenn wir diese Fragen zu unseren eigenen machen wollten. Uns kommt anihnen nur das zu, was sich auf unsere Lage anwenden läßt; alles andere ist uns fremd, und wirwürden nur in die Rolle Don Quichottes verfallen, wenn wir uns für sie erhitzen würden. Wirwürden uns dadurch eher den Spott als die Achtung der Europäer zuziehen. Bei uns, in uns,um uns – hier müssen wir sowohl die Fragen wie auch ihre Lösungen suchen. Diese Richtungwird uns brauchbare, wenn auch nicht gerade glänzende Früchte bringen. Und Ansätze zudieser Richtung sehen wir in der zeitgenössischen russischen Literatur, in diesen Ansätzenaber ihre Annäherung an die männliche Reife. In dieser Hinsicht befindet sich unsere Literaturheute in der [424] Lage, daß ihre Erfolge in der Zukunft, ihre Vorwärtsbewegung mehrvon dem Umfang und der Zahl der Gegenstände abhängen, auf die sie sich wird ausbreitenkönnen, als von ihr selbst. Je mehr ihr Inhalt sich ausweitet, je reichere Nahrung ihre Tätigkeitfindet, um so schneller und fruchtbarer wird sie sich entwickeln. Auf jeden Fall hat sie,wenn auch noch nicht ihre Reife erreicht, so doch bereits sozusagen den graden Weg zu ihrgefunden, ertastet, und damit hat sie einen großen Erfolg erzielt.Eines der frappantesten Anzeichen für die Reife der zeitgenössischen russischen Literatur istdie geringe Rolle, die die Versdichtung in ihr spielt. Es gab Zeiten, wo Verse und Verschenunserem Publikum Freude und Vergnügen bereiteten. Man las sie, las sie wieder, lernte sieauswendig, kaufte sie, ohne die Ausgabe zu scheuen, oder schrieb sie sich ab. Ein neues Poemin Versen, ein Poemfragment, neue Gedichte, die in einer Zeitschrift oder einem Almanacherschienen – das alles genoß das Privileg, Lärm, Debatten, Begeisterung, Diskussionenusw. auszulösen. Verskünstler ohne Zahl traten auf den Plan und wuchsen wie die Pilze nachdem Regen. Heute ist es anders. Gedichte spielen im Vergleich mit der Prosa eine sekundäreRolle. Man liest sie nicht besonders gern, schenkt ihnen kaum Beachtung, hat ein bißchenkühles Lob für das Gute übrig und verliert kein Wort über das Mittelmäßige. Gegen frühergibt es heute bedeutend weniger Verskünstler. Hieraus haben viele den Schluß gezogen, dieZeit der Poesie sei für die russische Literatur vorüber, die Poesie habe sich wohl gar für immervon uns zurückgezogen. Wir dagegen sehen hierin eher einen Triumph als einen Verfallder russischen Dichtung. Was hat die Manie des Verseschreibens und des Verselesens erschüttertund schließlich ganz ausgetrieben? – Vor allem das Auftreten Gogols, dann der Abdruckder nachgelassenen Werke Puschkins und schließlich das Auftreten Lermontows. Daspoetische Wirken Puschkins läßt sich in zwei Perioden einteilen: in der ersten erscheint esschön, aber noch nicht tief, nicht recht befestigt, noch zugänglich für Kopie und Nachahmung;in der zweiten sehen wir es auf der unerreichbaren Höhe künstlerischer Reife, Tiefeund Kraft; hier läßt es sich bereits nicht mehr kopieren, nicht mehr nachahmen. Das TalentLermontows lenkte gleich bei seinem ersten Auftreten die allgemeine Aufmerksam-[425]keitauf sich und nahm allen und jedem die Lust, es nachzuahmen. Seitdem wurde es sehr schwer,zu dichterischem Ruhm zu gelangen, so daß ein Talent, das früher eine blendende Rolle hättespielen können, sich jetzt mit einer wesentlich bescheideneren Stellung zufrieden geben muß.Das bedeutet, daß der Geschmack des Publikums Gedichten gegenüber wählerischer, die Ansprüchehöher geworden sind; und das ist natürlich ein Fortschritt und nicht ein Rückgang des8 Mit den „neuen großen Fragen“ meinte Belinski natürlich die von den utopistischen Sozialisten aufgeworfenenProbleme.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013
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