W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 246stes ihrer Nation, und ihr ganzes Verdienst, ihre ganze Größe besteht eben darin, daß sie gegenden Geist ihrer Nation angehen, ihn bekämpfen und ihn be-[415]siegen. Das ist eine echtrussische und in dieser Hinsicht ausgesprochen nationale Meinung, die keinem Europäer hätteeinfallen können! Diese Meinung ist direkt aus einer falschen Auffassung von der ReformPeters des Großen hervorgegangen, der nach einer in Rußland allgemein verbreiteten Meinungangeblich den russischen Volksgeist vernichtet hat. Das ist die Meinung derjenigen, dieden Volksgeist in den Gebräuchen und den Vorurteilen sehen, ohne zu verstehen, daß sich inihnen wirklich der Volksgeist widerspiegelt, daß aber sie allein noch durchaus nicht denVolksgeist bilden. Volk und Menschheit in zwei einander völlig fremde, ja feindliche Prinzipienzu trennen, heißt in den allerabstraktesten, ganz und gar papiernen Dualismus verfallen.Was macht die höchste, die edelste Wirklichkeit im Menschen aus? – Natürlich das, was wirseine Geistigkeit nennen, d. h. das Gefühl, die Vernunft, der Wille, in denen sein ewiges, unvergängliches,notwendiges Wesen zum Ausdruck kommt. Und was gilt im Menschen alsniedrig, zufällig, relativ, vergänglich? – Natürlich sein Leib. Bekanntlich sind wir von Kindauf gewöhnt, unsern Leib zu verachten, vielleicht ebendeshalb, weil wir ihn, ewig in logischenPhantasien lebend, wenig kennen. Die Ärzte dagegen achten mehr als andere den Leib, weilsie ihn mehr als andere kennen. Das ist der Grund, warum sie manchmal rein moralischeKrankheiten mit rein materiellen Mitteln behandeln, und umgekehrt. Daraus läßt sich erkennen,daß die Ärzte, indem sie den Leib achten, die Seele nicht verachten: nur verachten sie denLeib nicht, indem sie die Seele achten. In dieser Hinsicht gleichen sie dem klugen Agronomen,der voller Achtung nicht nur auf den reichen Kornsegen blickt, den ihm die Erde einbringt,sondern auch auf die Erde selbst, die ihn hervorgebracht hat, und selbst auf denschmutzigen, dreckigen und stinkenden Mist, der die Fruchtbarkeit dieser Erde erhöht hat. Ihrschätzt natürlich im Menschen besonders das Gefühl? – Ausgezeichnet! – So schätzt dennauch jenes Stück Fleisch, das in seiner Brust zuckt, das ihr das Herz nennt und dessen verlangsamteroder beschleunigter Schlag getreu jeder Regung eurer Seele entspricht. – Ihr achtetnatürlich im Menschen besonders den Geist? – Ausgezeichnet! – So macht denn in ehrfürchtigemStaunen vor der Masse seines Gehirns halt, in dem alle geistigen Prozesse vor sich gehen,von dem aus sich durch das Rückgrat über den ganzen Organismus hin die Nervenstränge ziehen,die die Organe der Empfindungen [416] und der Gefühle sind und Flüssigkeiten von solcherFeinheit in sich tragen, daß sie der materiellen Beobachtung entgleiten und sich der spekulativenVernunft entziehen. Andernfalls werdet ihr erstaunt sein, im Menschen Folgen ohneUrsachen zu finden, oder euch – was noch schlimmer ist – eigene, in der Natur nicht vorkommendeUrsachen erfinden und euch mit ihnen zufrieden geben. Eine Psychologie, die sichnicht auf die Physiologie stützt, ist ebenso unhaltbar wie eine Physiologie, die nichts von derExistenz der Anatomie weiß. Die moderne Wissenschaft hat sich auch damit nicht zufriedengegeben: sie will mit Hilfe der chemischen Analyse in das geheimnisvolle Laboratorium derNatur eindringen und durch Beobachtung an Embryonen den physischen Prozeß der moralischenEntwicklung verfolgen. Aber das ist die innere Welt des physiologischen Lebens desMenschen. Alle seine für uns verborgenen Aktionen kommen als Resultat im Antlitz, imBlick, in der Stimme, sogar in den Manieren des Menschen zum Vorschein. Aber was ist dasindessen: – das Gesicht, die Augen, die Stimme, die Manieren? Das ist doch alles Leib, Äußeres,also alles etwas Vergängliches, Zufälliges, Nichtiges, denn das alles ist ja nicht Gefühl,nicht Geist, nicht Wille? –Ja! – aber in alledem sehen und hören wir doch sowohl Gefühl alsauch Geist und Willen. Das Zufälligste am Menschen sind seine Manieren, weil sie am meistenvon der Erziehung, von der Lebensweise, von der Gesellschaft abhängen, in der derMensch lebt; aber warum erkennt dann euer Gefühl manchmal auch in den groben Maniereneines Bäuerleins einen guten Menschen, dem ihr euch ruhig anvertrauen könnt, während zurselben Zeit die feinen Manieren eines Mannes von Welt euch manchmal unwillkürlich veranlassen,vor ihm auf der Hut zu sein? – Wie viele Menschen mit Seele, mit Gefühl gibt es aufOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 247der Welt, aber bei jedem von ihnen hat dieses Gefühl seinen eigenen Charakter, seine Besonderheit.Wie viele geistreiche Menschen gibt es auf der Welt, und dabei hat jeder von ihnenseinen eigenen Geist. Das bedeutet nicht, daß die Menschen verschiedenen Geist haben: dannwürden sie einander nicht verstehen können; aber es bedeutet, daß auch der Geist seine Individualitäthat. Darin liegt seine Beschränktheit. Und deshalb ist selbst der Geist des größten Geniesstets unermeßlich geringer als der Geist der ganzen Menschheit. Aber eben darin liegtauch seine Wirklichkeit, seine Realität. Ein Geist ohne Körperlichkeit, ohne Physiognomie,ein Geist, der nicht auf das Blut einwirkt und keine Ein-[417]wirkung von ihm empfängt, istein logischer Traum, ein totes Abstraktum. Der Geist ist der Mensch im Leib oder, besser gesagt,der Mensch durch den Leib, kurz, die Persönlichkeit. Deswegen gibt es auf der Weltebenso viele Geister wie Menschen, und nur die Menschheit hat einen Geist. Man sehe sicheinmal an, wie viele moralische Nuancen in der menschlichen Natur stecken: bei dem einen istder Geist vor lauter Herz kaum zu bemerken, bei dem andern scheint sich das Herz ins Gehirnverlagert zu haben; dieser hier ist schrecklich klug und fähig zu Taten, bringt aber nichts zustande,weil er keinen Willen hat; dagegen hat jener dort einen furchtbaren Willen, aber einenschwachen Kopf, und sein Tun bringt entweder Unfug oder Böses zustande. Alle diese Nuancenaufzuzählen, ist ebenso unmöglich, wie die Unterschiede der Physiognomien aufzuzählen:wie viele Menschen, so viele Gesichter, und zwei völlig gleiche zu finden, ist noch wenigermöglich, als zwei einander völlig gleiche Baumblätter zu finden. Wenn man eine Frau liebt,soll man nicht sagen, man sei bezaubert durch die schönen Eigenschaften ihres Geistes undihres Herzens: andernfalls wird man, wenn man auf eine andere aufmerksam gemacht wird,die höhere moralische Eigenschaften hat, gezwungen sein, sich neu zu verlieben und den erstenGegenstand der Liebe um des neuen Gegenstandes willen aufzugeben, wie man ein gutesBuch für ein besseres aufgibt. Man soll den Einfluß der moralischen Eigenschaften auf dasGefühl der Liebe nicht leugnen, aber wenn man einen Menschen liebt, liebt man ihn ganz,nicht als Idee, sondern als lebendige Persönlichkeit, liebt an ihm besonders das, was man wederdefinieren noch nennen kann. Wie wollte man wirklich z. B. jenen ungreifbaren Ausdruck,jenes geheimnisvolle Spiel seiner Physiognomie, seiner Stimme, kurz, alles das definieren undnennen, was seine Besonderheit ausmacht, was ihn anderen Menschen unähnlich macht undwofür man ihn – das kann man mir glauben – auch vor allem liebt? Warum sollte man sonstüber der Leiche eines geliebten Wesens verzweifelt schluchzen? Mit ihm ist ja das, was dasBeste, das Edelste an ihm war, was man das Geistige und das Sittliche an ihm genannt hat,nicht gestorben – gestorben ist vielmehr das grob Materielle, Zufällige... Aber über ebendiesesZufällige schluchzt man so bitterlich, weil einem die Erinnerung an die schönen Eigenschafteneines Menschen nicht den Menschen selbst ersetzt, ebenso wie ein Mensch, der vor Hungerstirbt, nicht satt wird durch die Erinnerung an den reichgedeckten [418] Tisch, an dem er sichkurz zuvor erfreut hat. Ich bin gern einverstanden mit den Spiritualisten, daß mein Vergleichgrob ist, dafür ist er aber richtig, und das ist für mich die Hauptsache. Dershawin hat gesagt:„So sterbe ich nicht ganz: ein Stück von meinem WesenWird leben unverwest, der Nachwelt einverleibt.“Gegen die Wirklichkeit einer solchen Unsterblichkeit läßt sich nichts sagen, obschon sie fürdie Menschen, die dem Dichter nahestanden, keinen Trost bedeutet; aber was hinterläßt derDichter in seinen Werken der Nachwelt, wenn nicht seine Persönlichkeit? Wenn er nicht mehrPersönlichkeit wäre als irgendein beliebiger Jemand, nicht vorwiegend Persönlichkeit, so würdenseine Werke farblos und blaß sein. Deswegen bilden die Schöpfungen jedes großen Dichterseine ganz besondere, originelle Welt, und Homer, Shakespeare, Byron, Cervantes, WalterScott, Goethe und George Sand haben nur das gemeinsam, daß sie große Dichter sind...Aber was ist nun diese Persönlichkeit, die sowohl dem Gefühl und dem Geist wie auch demWillen und dem Genie Realität verleiht und ohne die alles entweder ein phantastischer TraumOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013
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