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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 244hundert ist, das wird für ein anderes Volk, in einem andern Jahrhundert zur Lüge und zumBösen. Deswegen ist die unbedingte oder absolute Urteilsweise die leichteste, dafür jedochauch die unzuverlässigste; heute nennt man sie abstrakt. Es ist nichts leichter, als zu definieren,was der Mensch in moralischer Hinsicht sein soll; aber nichts ist schwerer, als zu zeigen,warum dieser Mensch hier so geworden ist, wie er ist, und nicht zu dem geworden ist, was ernach der Theorie der Moralphilosophie sein sollte.Das ist der Standpunkt, von dem aus wir Anzeichen für die Reife der zeitgenössischen russischenLiteratur in den scheinbar allergewöhnlichsten Erscheinungen erblicken. Man sehe undhöre einmal zu: worüber debattieren unsere Zeitschriften vor allem? – über den Volksgeist,über die Wirklichkeit; was greifen sie vor allem an? – die Romantik, die Schwärmerei, dieAbstraktheit. Über einige von diesen Gegenständen ist auch früher viel debattiert worden,aber sie hatten nicht den Sinn, nicht die Bedeutung wie jetzt. Der Begriff „Wirklichkeit“ istvöllig neu: „Romantik“ wurde früher als das A und O menschlicher Weisheit betrachtet, undman suchte einzig in ihr die Lösung aller Fragen; der Begriff „Volksgeist“ hatte früher ausschließlichliterarische Bedeutung, fand keinerlei Anwendung auf das Leben. Auch jetzt findeter, wenn man will, vorwiegend in der Sphäre der Literatur Anwendung; der Unterschiedist jedoch der, daß die Literatur eben jetzt zum Echo des Lebens geworden ist. [412] Wie manheute über diese Gegenstände urteilt, ist eine andere Frage. Gewöhnlich tun es die einen besser,die andern schlechter, aber fast alle stimmen darin überein, daß sie in der Lösung dieserFragen so etwas wie ihre Rettung sehen. Besonders die Frage des „Volksgeistes“ ist zur allesbeherrschenden Frage geworden und hat zwei extreme Formulierungen gefunden. Die einenwerfen den Volksgeist mit den alten Gebräuchen durcheinander, die sich heute nur beim einfachenVolk erhalten haben, und lieben es nicht, wenn man in ihrer Gegenwart unehrerbietigvon der schornsteinlosen, schmutzigen Bauernhütte, von Rettich und Kwaß, ja sogar von Fuselspricht; die anderen sind sich der Notwendigkeit eines höchsten nationalen Prinzips bewußt,geben sich, da sie es in der Wirklichkeit nicht finden, die größte Mühe, eigens eins auszudenken,und weisen etwas unbestimmt und in Andeutungen auf die Demut als den Ausdruckdes russischen Nationalgeistes hin. Mit jenen kann man ernsthaft nicht streiten; aberdiesen kann man entgegnen, daß die Demut in gewissen Fällen eine höchst lobenswerte Tugendfür einen Menschen jedes Landes ist, für einen Franzosen wie für einen Russen, für einenEngländer wie für einen Türken, daß sie aber allein wohl schwerlich das ausmachenkann, was man „Volksgeist“ nennt. Zudem läßt sich diese Ansicht, die vielleicht theoretischausgezeichnet ist, nicht recht mit den historischen Tatsachen in Einklang bringen. UnsereTeilfürstenperiode zeichnet sich eher durch Hochmut und durch Rauflust als durch Demutaus. Den Tataren haben wir uns durchaus nicht aus Demut ergeben (was uns nicht zur Ehre,sondern zur Unehre gereichen würde, wie bei jedem anderen Volk), sondern aus Schwäche,die die Folge der Zersplitterung unserer Kräfte durch das dem Regierungssystem jener Zeitzugrunde liegende Sippenprinzip war. Iwan Kalita war listenreich, aber nicht demütig; Simeontrug sogar den Beinamen „Der Stolze“, aber diese Fürsten waren die Begründer der Machtdes Moskauer Zarenreichs; Dmitri Donskoi hat den Tataren das Ende ihrer Herrschaft überRußland mit dem Schwert und nicht mit der Demut vorausgesagt. Iwan III. und Iwan IV., diebeide den Beinamen „Der Dräuende“ erhielten, zeichneten sich nicht durch Demut aus. Einzigder schwache Fjodor bildet eine Ausnahme von der Regel. Überhaupt ist es recht sonderbar,in der Demut die Ursache sehen zu wollen, aus der heraus das winzige Moskauer Fürstentumspäter zuerst zum Moskauer Zarenreich und dann zum russischen Imperium wurde,indem es Sibirien, [413] Kleinrußland, Bjelorußland, Neurußland, die Krim, Bessarabien,Livland, Estland, Kurland, Finnland und den Kaukasus als sein Eigentum unter die Fittichedes doppelköpfigen Adlers nahm... Natürlich kann man in der russischen Geschichte bei Regierungs-und Privatpersonen frappante Züge von Demut wie von anderen Tugenden finden;aber in der Geschichte welches Volkes wären sie nicht zu finden, und inwiefern steht einOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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