13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 237den Grund des kühlen Weißen Meers versetzte; wenn er sich, sagen wir, statt all dieser papiernen,schülerhaften Ungereimtheiten den Quellen unserer Volksdichtung zugewandt hätte– dem „Igorlied“, den russischen Märchen (die wir heute aus dem Sammelband KirschaDanilows kennen), den Volksliedern – und sich daran gemacht hätte, von ihnen begeistertund beseelt, auf dieser ganz aus dem Volke stammenden Grundlage das Gebäude einer neuenrussischen Literatur zu errichten: was wäre dann dabei herausgekommen? – Das ist einescheinbar wichtige, eigentlich jedoch höchst inhaltlose Frage, ähnlich solchen Fragen wie:was wäre geschehen, wenn Peter der Große in Frankreich, Napoleon dagegen in Rußland zurWelt gekommen wäre, oder: was wäre, wenn auf den Winter nicht der Frühling folgte, sonderngleich der [400] Sommer usw. Wir können wissen, was war und was ist, aber wie sollenwir wissen, was es nicht gegeben hat und nicht gibt? Selbstverständlich hätte auch im Bereichder Geschichte alles Kleine, Unbedeutende, Zufällige auch nicht so zu kommen brauchen,wie es kam; die großen Ereignisse der Geschichte jedoch, die Einfluß auf die Zukunft derVölker haben, können nicht anders sein als eben so, wie sie sind, natürlich hinsichtlich ihreswesentlichen Sinns und nicht der Details ihrer Äußerung. Peter der Große hätte Petersburgauch wohl dort errichten können, wo heute Schlüsselburg liegt, oder wenigstens ein wenighöher den Fluß hinauf, d. h. weiter vom Meere entfernt als heute; er hätte auch Reval oderRiga zur neuen Hauptstadt machen können; bei alledem spielten der Zufall und verschiedeneUmstände eine große Rolle; aber das Wesentliche liegt nicht hierin, sondern in der Notwendigkeit,eine neue Hauptstadt an der Küste des Meeres zu errichten, die uns erlaubte, leichtund bequem mit Europa in Verbindung zu stehen. Dieser Gedanke hatte bereits nichts Zufälligesan sich, nichts, was ebensogut hätte sein und nicht sein oder anders sein können, als eswar. Aber um den Leuten entgegenzukommen, für die die großen historischen Ereignissekeine vernünftige Notwendigkeit besitzen, sind wir sogar bereit, die Frage: was wäre geschehen,wenn Lomonossow die neue russische Literatur auf die Volkskunst begründet hätte? –ernst zu nehmen – und wir antworten ihnen, daß absolut nichts dabei herausgekommen wäre.Die eintönigen Formen unserer dürftigen Volksdichtung genügten, um den beschränkten Inhaltdes naturwüchsigen, unmittelbaren, halb patriarchalischen Stammeslebens Altrußlandsauszudrücken; aber der neue Inhalt paßte nicht zu ihnen, fand in ihnen nicht Platz; er brauchteauch neue Formen. Damals hing unsere Rettung nicht vom russischen Volksgeist ab, sondernvom Europäismus; zu unserer Rettung bedurfte es damals nicht der Unterdrückung, nicht derAusrottung unseres Volksgeistes (ein entweder unmögliches oder, wenn möglich, verderbenbringendesUnterfangen), sondern es war nötig, sozusagen seinen Lauf und seine Entwicklungeine Zeitlang aufzuhalten (suspendre), um neue Elemente auf seinen Boden zu verpflanzen.Solange diese Elemente sich zu unseren heimischen wie Butter zu Wasser verhielten,war bei uns natürlich alles Rhetorik – sowohl die Sitten als auch ihr Ausdruck – die Literatur.Aber damit war der Anfang zu einem lebendigen, organischen Hineinwachsen gemacht –durch einen Prozeß der Aneignung (assimilation) – und des-[401]halb bewegte sich die Literaturvon dem abstrakten Prinzip toter Nachahmung aus ständig auf das lebendige Prinzipurwüchsiger Eigenart zu. So konnten wir schließlich erleben, daß die französische Übersetzungeiniger Erzählungen Gogols die erstaunte Aufmerksamkeit ganz Europas auf die russischeLiteratur lenkte – wir sagen: die erstaunte Aufmerksamkeit, weil russische Romane undErzählungen auch früher in fremde Sprachen übersetzt worden waren, bei den Ausländernjedoch statt Aufmerksamkeit nur eine für uns durchaus nicht schmeichelhafte Gleichgültigkeitunserer Literatur gegenüber hervorgerufen hatten, und zwar aus dem einfachen Grunde,weil die Ausländer diese in ihre Sprachen übersetzten russischen Erzählungen und Romanevielmehr für Übersetzungen aus ihren Sprachen gehalten hatten: so wenig eigentlich Russisches,Urwüchsiges und Originelles gab es in ihnen.Karamsin befreite die russische Literatur endgültig vom Einfluß Lomonossows; daraus folgtjedoch nicht, daß er sie völlig vom Rhetorischen befreite und sie zur nationalen LiteraturOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!