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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 236am Satzende, geschrieben sind; seine dichterischen Werke und Lobreden dagegen fließen übervon Rhetorik. Woher kommt das? – daher, daß er für seine gelehrten Werke einen fertigenInhalt besaß, den er sich durch wissenschaftliches Arbeiten in den deutschen Landen erworbenhatte und nicht von seinem Vaterland zu erwarten oder zu erbitten brauchte. Was er durchStudium und Arbeit erworben hatte, entwickelte und bereicherte er durch sein eigenes Genie.Er kannte also das, was er schrieb, und hatte keine Rhetorik nötig. Für seine Dichtung dagegenkonnte er im gesellschaftlichen Leben seines Vaterlands keinen Inhalt finden, weil es hiernicht nur kein gesellschaftliches Bewußtsein, sondern auch nicht einmal ein Streben danachund mithin keinerlei geistige und moralische Interessen gab. Deshalb mußte er für seine Dichtungzu einem völlig fremden, dafür aber fertigen Inhalt greifen und in seinen Gedichten Gefühle,Begriffe und Ideen zum Ausdruck bringen, die nicht bei uns, nicht in unserem Lebenund nicht auf unserem Boden zustande gekommen waren. So konnte er nicht anders als zumRhetor werden, weil Begriffe eines fremden Lebens, wenn sie für eigene Begriffe ausgegebenwerden, immer Rhetorik sind. Noch mehr Rhetorik waren zu jener Zeit die europäischen Fräkke,Kamisole * , Stiefeletten, Perücken, Reifröcke, Schönheitspflästerchen, Abendgesellschaften,Menuette usw. Aber wer – Theoretiker und Phantasten ausgenommen – wird leugnen, daßheute die europäische Kleidung und die europäischen Sitten für den besten, d. h. gebildetstenTeil der russischen Gesellschaft zu nationalen geworden sind, ohne daß diese Gesellschaftdadurch im geringsten aufgehört hat, wirklich und nicht nur dem Namen nach russisch zusein? Sagen wir noch mehr: nicht nur für den gebildetsten Teil der russischen Gesellschaft,sondern für das ganze russische Volk sind heute alle Begriffe, Definitionen und Worte desrussischen Alltagslebens aus der Zeit vor Peter zur reinen Rhetorik geworden – und wenn unsereMilitär und Zivilbeamten plötzlich wieder in Strategen, Bojaren, Truchsesse [Hofamt]usw. umgetauft würden, so würde das einfache Volk kein Wort davon verstehen. Dank Lomonossowhat sich das gleiche auch in der literarischen Welt vollzogen: alle nachgeahmte Volkstümlichkeitriecht heute nach armen Leuten, d. h. nach Pöbel, und alle Versuche auch der begabtestenSchriftsteller in dieser Richtung klingen nach Rhetorik.„Aber wie war das Wunder möglich“, wird man uns fragen, [399] „daß die äußerliche, abstrakteÜbernahme fremder Elemente und ihre künstliche Verpflanzung auf den heimischenBoden lebendige, organisch gewachsene Früchte hervorbringen konnte?“ – Wir antwortenhierauf mit dem, was wir bereits gesagt haben: es wäre zweifellos interessant, diese Frage zulösen; aber wir haben jetzt keine Zeit für sie: es genügt, wenn wir sagen, daß es so, eben sogekommen ist, daß wir hier eine historische Tatsache vor uns haben, die abzuleugnen niemandemauch nur in den Sinn kommen kann, der Augen, um zu sehen, und Ohren, um zuhören, besitzt. Die Schriftsteller, in denen sich die progressive Bewegung durch die Befreiungder russischen Literatur vom Einfluß Lomonossows durchsetzte, dachten gar nicht hieran;es geschah, ohne daß sie sich dessen bewußt waren; für sie wirkte der Geist der Zeit, dessenOrgane sie waren. Lomonossow als Dichter genoß ihre tiefe Verehrung, sie neigten sichehrfürchtig vor seinem Genie, sie bemühten sich, ihn nachzuahmen, und entfernten sich dennochmehr und mehr von ihm. Ein frappierendes Beispiel hierfür ist Dershawin. Aber dasmacht eben die Lebendigkeit der europäischen Prinzipien aus, die Peter der Große unseremVolksgeist eingeimpft hat, daß sie nicht in totem Stillstand erstarren, sondern sich weiterbewegen,fortschreiten, sich entwickeln. Wenn Lomonossow nicht auf den Einfall gekommenwäre, Oden nach dem Muster der zeitgenössischen deutschen Dichter und des französischenLyrikers Jean-Baptiste Rousseau zu schreiben und nach dem Vorbild der „Aeneis“ Virgilsseine „Petriade“ zu verfassen, in der er neben Peter dem Großen, dem Helden seines Poems,auch Neptun als handelnde Figur einführte und ihn samt seinen Tritonen und Najaden ** auf* eng anliegende Jacke** Tritonen: Wesen mit menschlichem Oberkörper und fischartigem Schwanz; Najaden: Nymphen.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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