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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 234sein: ist das nicht ein Hirngespinst, ein Traum? Und wirklich: es gab eine Zeit, wo die Frage,ob wir eine Literatur haben – nicht als paradox erschien und von vielen verneinend beantwortetwurde. Und zu dieser Antwort kommt man natürlich und unausweichlich, wenn man dierussische Literatur von den Grundsätzen aus beurteilt, nach denen man die Geschichte dereuropäischen Literaturen beurteilen muß. Aber eine der größten geistigen Errungenschaftenunserer Zeit besteht doch gerade darin, daß wir endlich verstanden haben, daß Rußland seineeigene Geschichte gehabt hat, die nicht im geringsten der Geschichte irgendeines europäischenStaates gleicht, und daß wir sie auf ihrer eigenen Grundlage studieren und beurteilen müssen,nicht aber auf der Grundlage der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Völker, dienichts mit ihr gemein hat. Dasselbe gilt für die Geschichte der russischen Literatur. Die obenerwähnten Schriftsteller haben mit Lomonossow und seiner Schule, wenn man sie als zweiExtreme miteinander vergleicht, wirklich nichts Gemeinsames, nichts, was sie verbindet; abersobald wir alle russischen Schriftsteller von Lomonossow bis zu Gogol in ihrer chronologischenAufeinanderfolge studieren, tritt sofort eine lebendige Verwandtschaftsbeziehung zwischenihnen zutage. Wir werden dann sehen, daß bis [395] zu Puschkin die ganze Bewegungder russischen Literatur in dem – wenn auch unbewußten – Bestreben bestand, sich von demEinfluß Lomonossows frei zu machen und sich dem Leben, der Wirklichkeit zu nähern, alsourwüchsig, national, russisch zu werden. Wenn sich in den Werken Cheraskows und Petrows,die von ihren Zeitgenossen so unverdient in den Himmel gehoben wurden, nicht der geringsteFortschritt in dieser Hinsicht beobachten läßt – so ist dieser Fortschritt bei Sumarokow, einemSchriftsteller ohne Genie, ohne Geschmack, fast ohne Talent, den die Zeitgenossen jedoch alsNebenbuhler Lomonossows ansahen, bereits vorhanden. Die – wenn auch mißglückten – VersucheSumarokows, eine russische Sittenkomödie zu schaffen, seine Satiren und vor allemseine naiv-galligen Ausfälle gegen die „Brennesselsamen“ sowie auch einige seiner Prosaaufsätze,in denen mehr oder weniger Fragen der Wirklichkeit seiner Zeit berührt werden – allesdas läßt ein gewisses Streben erkennen, die Literatur dem Leben anzunähern. Und in dieserHinsicht verdienen die jedes künstlerischen oder literarischen Interesses baren Werke Sumarokowsstudiert zu werden, ebenso wie sein Name, der anfänglich über Gebühr gefeiert unddann ebenso ungerechterweise herabgesetzt wurde, von den Nachfahren geachtet zu werdenverdient. Selbst Cheraskow und Petrow dürfen nicht als ganz nutzlose Erscheinungen betrachtetwerden: die Zeitgenossen sahen in ihnen Genies, erhoben sie in den siebenten Himmel, sielasen sie also, und wenn sie sie lasen, dann bedeutet das, daß diese Schriftsteller wesentlichdazu beitrugen, in Rußland den Geschmack an der Beschäftigung mit der Literatur und denGenuß an ihr zu verbreiten. Die scheußlichen Parabeln Sumarokows wurden in den FabelnChemnitzers und Dmitrijews zu Übersetzungen französischer Fabeln, die für ihre Zeit rechtgelungen waren, und später in den Fabeln Krylows zu hervorragenden volkstümlichen Schöpfungen.Der Imitator Lomonossows, Dershawin, der selbst einem Cheraskow und einem Petrowstille Verehrung entgegenbrachte, war, wenn auch noch kein urwüchsig russischer Dichter,so doch schon kein bloß rhetorisches Talent mehr. Von Natur mit einem starken poetischenGenie begabt, konnte er nur deshalb keine urwüchsige russische Poesie schaffen, weildie Zeit dafür noch nicht gekommen war, nicht aber, weil es ihm etwa an natürlichen Kräftenund Mitteln gefehlt hätte. Die russische Sprache war damals noch nicht ausgebildet, der Geisteiner papiernen Rhetorik herrschte in der Literatur; vor allem aber gab es damals [396] nur einstaatliches, aber kein gesellschaftliches Leben, weil es damals keine Gesellschaft gab, sondernnur den Hof, auf den alle blickten, den aber nur diejenigen kannten, die Zutritt zu ihm hatten.Es gab keine Gesellschaft, und es gab also auch kein gesellschaftliches Leben, keine gesellschaftlichenInteressen; Poesie und Literatur konnten keinen Inhalt finden, konnten nirgendsaus eigenen Kräften, sondern nur dank der Hilfe starker, hochgestellter Gönner existieren undsich über Wasser halten und trugen offiziellen Charakter. So muß man diese Epoche betrachten,wenn man sie mit der unsrigen vergleicht; aber anders muß man sie ansehen, wenn manOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 235sie mit der Epoche Lomonossows vergleicht: hier zeigte sie einen relativ großen Fortschritt.Gab es zu dieser Zeit noch keine Gesellschaft, so war sie eben damals im Entstehen begriffen,da der Glanz und die Bildung des Hofs auch auf den mittleren Adel abzufärben und sich zurselben Zeit in diesem die Sitten zu formen begannen, die wir heute kennen. Aus diesemGrunde hatte Dershawin neben dem großen Unterschied im poetischen Genie vor Lomonossoweinen großen Vorsprung auch hinsichtlich des Inhalts seiner Poesie, obschon er nichtnur nicht gelehrt war, sondern auch keine Bildung besaß. Deshalb ist die Dichtung Dershawinsihrem Inhalt nach weitaus mannigfaltiger, lebendiger und menschlicher als die Dichtung Lomonossows.Der Grund hierfür liegt nicht nur darin, daß Lomonossow mehr ein ausgezeichneterVerskünstler als ein Dichter war, während Dershawin von Natur ein poetisches Genie mitbekommenhatte, sondern auch in dem relativen Fortschritt, der die Gesellschaft der ZeitenKatharinas der Großen von der Gesellschaft der Kaiserinnen Anna und Elisabeth unterschied.Aus dem gleichen Grunde stellt die Literatur der Zeit Katharinas die vorhergehende Literaturentschieden in den Schatten. Außer Dershawin wirkte in jener Zeit Fonwisin – der erste begabteKomödiendichter in der russischen Literatur, ein Schriftsteller, den heute zu studieren,nicht nur außerordentlich interessant ist, sondern den zu lesen, echten Genuß bereitet. In seinerPerson scheint die russische Literatur sogar vor der Zeit einen riesigen Schritt in Richtungauf die Annäherung an die Wirklichkeit getan zu haben: seine Werke sind eine lebendigeChronik jener Epoche. Gerade in jener Zeit begann sich unsere Literatur von den Literaturender Antike, die man in den Seminaren rein seminarmäßig studierte, abzuwenden und sichausschließlich der französischen Literatur zuzuneigen. [397] Infolgedessen begann man sichum die sogenannte „leichte“ Literatur zu bemühen, in der sich Bogdanowitsch hervortat. GegenEnde der Herrschaft Katharinas trat Karamsin auf den Plan, der der russischen Literatureine neue Richtung gab. Wir wollen hier nicht von seinen hohen Verdiensten, von seinemgroßen Einfluß auf unsere Literatur und, durch sie, auf die Bildung unserer Gesellschaft reden.Wir wollen auch nicht im einzelnen auf die Schriftsteller eingehen, die ihm nachgefolgtsind. Wir wollen nur kurz bemerken, daß sich bei jedem von ihnen ein schrittweises Freimachenvon der papiernen, rhetorischen Richtung beobachten läßt, die Lomonossow unsererLiteratur gegeben hatte, und eine schrittweise Annäherung der Literatur an die Gesellschaft,das Leben, die Wirklichkeit. Man sehe sich einmal die Lyzeumsgedichte Puschkins, ja sogarviele von den Stücken an, die er selbst in den ersten Teil seiner Werke aufgenommen hat –und man wird in ihnen den Einfluß fast aller ihm vorausgegangenen Dichter, von Lomonossowbis Shukowski und Batjuschkow einschließlich, finden. Der Fabeldichter Krylow,dem Chemnitzer und Dmitrijew vorausgegangen waren, hat sozusagen die Sprache und denVers für die unsterbliche Komödie Gribojedows vorbereitet. So besteht also in unserer Literaturüberall ein lebendiger historischer Zusammenhang, das Neue geht aus Altem hervor, dasFolgende läßt sich aus dem Vorhergehenden erklären, und nichts tritt zufällig in Erscheinung.„Aber worin“, wird man uns vielleicht fragen, „worin bestand denn das große Verdienst Lomonossows,wenn das ganze Verdienst der auf ihn folgenden Schriftsteller in der schrittweisenEmanzipation der russischen Literatur von seinem Einfluß und mithin darin bestand, daßsie sich bemühten, nichts so zu schreiben, wie er geschrieben hat? Und ist es nicht ein sonderbarerWiderspruch, achtungsvoll von den Verdiensten und dem Genie eines Schriftstellerszu sprechen, den Sie selbst als Rhetoriker bezeichnen?“Erstens war Lomonossow durchaus nicht von Natur Rhetoriker: dazu war er zu groß; aber erwurde zum Rhetoriker durch Umstände, die nicht von ihm abhingen. Seine Werke zerfallen ingelehrte und literarische: zu diesen rechnen wir die Oden, die „Petriade“, die Tragödien, kurzalle seine Versuche in Versen und seine Lobreden. Seine gelehrten Werke auf dem Gebiet derAstronomie, der Physik, der Chemie, der Metallurgie und der Navigation sind frei von Rhetorik,obgleich sie in langen Perioden lateinisch-deutscher [398] Konstruktion, mit den VerbenOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 234sein: ist das nicht ein Hirngespinst, ein Traum? Und wirklich: es gab eine Zeit, wo die Frage,ob wir eine Literatur haben – nicht als paradox erschien und von vielen verneinend beantwortetwurde. Und zu dieser Antwort kommt man natürlich und unausweichlich, wenn man dierussische Literatur von den Grundsätzen aus beurteilt, nach denen man die Geschichte dereuropäischen Literaturen beurteilen muß. Aber eine der größten geistigen Errungenschaftenunserer Zeit besteht doch gerade darin, daß wir endlich verstanden haben, daß Rußland seineeigene Geschichte gehabt hat, die nicht im geringsten der Geschichte irgendeines europäischenStaates gleicht, und daß wir sie auf ihrer eigenen Grundlage studieren und beurteilen müssen,nicht aber auf der Grundlage der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Völker, dienichts mit ihr gemein hat. Dasselbe gilt für die Geschichte der russischen Literatur. Die obenerwähnten Schriftsteller haben mit Lomonossow und seiner Schule, wenn man sie als zweiExtreme miteinander vergleicht, wirklich nichts Gemeinsames, nichts, was sie verbindet; abersobald wir alle russischen Schriftsteller von Lomonossow bis zu Gogol in ihrer chronologischenAufeinanderfolge studieren, tritt sofort eine lebendige Verwandtschaftsbeziehung zwischenihnen zutage. Wir werden dann sehen, daß bis [395] zu Puschkin die ganze Bewegungder russischen Literatur in dem – wenn auch unbewußten – Bestreben bestand, sich von demEinfluß Lomonossows frei zu machen und sich dem Leben, der Wirklichkeit zu nähern, alsourwüchsig, national, russisch zu werden. Wenn sich in den Werken Cheraskows und Petrows,die von ihren Zeitgenossen so unverdient in den Himmel gehoben wurden, nicht der geringsteFortschritt in dieser Hinsicht beobachten läßt – so ist dieser Fortschritt bei Sumarokow, einemSchriftsteller ohne Genie, ohne Geschmack, fast ohne Talent, den die Zeitgenossen jedoch alsNebenbuhler Lomonossows ansahen, bereits vorhanden. Die – wenn auch mißglückten – VersucheSumarokows, eine russische Sittenkomödie zu schaffen, seine Satiren und vor allemseine naiv-galligen Ausfälle gegen die „Brennesselsamen“ sowie auch einige seiner Prosaaufsätze,in denen mehr oder weniger Fragen der Wirklichkeit seiner Zeit berührt werden – allesdas läßt ein gewisses Streben erkennen, die Literatur dem Leben anzunähern. Und in dieserHinsicht verdienen die jedes künstlerischen oder literarischen Interesses baren Werke Sumarokowsstudiert zu werden, ebenso wie sein Name, der anfänglich über Gebühr gefeiert unddann ebenso ungerechterweise herabgesetzt wurde, von den Nachfahren geachtet zu werdenverdient. Selbst Cheraskow und Petrow dürfen nicht als ganz nutzlose Erscheinungen betrachtetwerden: die Zeitgenossen sahen in ihnen Genies, erhoben sie in den siebenten Himmel, sielasen sie also, und wenn sie sie lasen, dann bedeutet das, daß diese Schriftsteller wesentlichdazu beitrugen, in Rußland den Geschmack an der Beschäftigung mit der Literatur und denGenuß an ihr zu verbreiten. Die scheußlichen Parabeln Sumarokows wurden in den FabelnChemnitzers und Dmitrijews zu Übersetzungen französischer Fabeln, die für ihre Zeit rechtgelungen waren, und später in den Fabeln Krylows zu hervorragenden volkstümlichen Schöpfungen.Der Imitator Lomonossows, Dershawin, der selbst einem Cheraskow und einem Petrowstille Verehrung entgegenbrachte, war, wenn auch noch kein urwüchsig russischer Dichter,so doch schon kein bloß rhetorisches Talent mehr. Von Natur mit einem starken poetischenGenie begabt, konnte er nur deshalb keine urwüchsige russische Poesie schaffen, weildie Zeit dafür noch nicht gekommen war, nicht aber, weil es ihm etwa an natürlichen Kräftenund Mitteln gefehlt hätte. Die russische Sprache war damals noch nicht ausgebildet, der Geisteiner papiernen Rhetorik herrschte in der Literatur; vor allem aber gab es damals [396] nur einstaatliches, aber kein gesellschaftliches Leben, weil es damals keine Gesellschaft gab, sondernnur den Hof, auf den alle blickten, den aber nur diejenigen kannten, die Zutritt zu ihm hatten.Es gab keine Gesellschaft, und es gab also auch kein gesellschaftliches Leben, keine gesellschaftlichenInteressen; Poesie und Literatur konnten keinen Inhalt finden, konnten nirgendsaus eigenen Kräften, sondern nur dank der Hilfe starker, hochgestellter Gönner existieren undsich über Wasser halten und trugen offiziellen Charakter. So muß man diese Epoche betrachten,wenn man sie mit der unsrigen vergleicht; aber anders muß man sie ansehen, wenn manOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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