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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 232Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1846 1Die Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit und ein Hinweis auf die Zukunft. Von derrussischen Literatur des Jahres 1846 sprechen, heißt somit, vom gegenwärtigen Stand der russischenLiteratur überhaupt sprechen, was sich nicht tun läßt, ohne daß man berührt, was siewar, was sie sein soll. Wir werden uns jedoch nicht auf historische Details einlassen, die unszu weit ablenken könnten. Das Hauptziel unseres Aufsatzes ist, die Leser des „Sowremennik“einleitend mit dessen Auffassung von der russischen Literatur und damit mit dem Geist undder Richtung dieser Zeitschrift bekannt zu machen. Programme und Ankündigungen wollen indieser Hinsicht nichts bedeuten: sie sind lediglich Versprechungen. Deshalb ist das Programmdes „Sowremennik“ möglichst knapp und gedrängt, es beschränkt sich auf rein äußerlicheVersprechungen. Zusammen mit dem Aufsatz des Redakteurs, der in der zweiten Abteilungdieser Nummer veröffentlicht ist, bildet der vorliegende Aufsatz das zweite, sozusagen innereProgramm des „Sowremennik“, an Hand dessen die Leser in einem gewissen Grade selbstüberprüfen können, wieweit die Ausführung den Versprechungen gerecht wird.Wenn man uns fragen wollte, worin das unterscheidende Merkmal der heutigen russischenLiteratur besteht, so würden wir antworten: in einer immer engeren Annäherung an das Leben,an die Wirklichkeit, in einem ständigen Fortschreiten zu männlicher Reife. Es verstehtsich von selbst, daß eine solche Charakteristik sich nur auf die jüngste Literatur beziehenkann, die noch jung ist und dabei nicht urwüchsig, sondern durch Nachahmung entstandenist. Eine urwüchsige, bodenständige Literatur reift in Jahrhunderten heran, und die Epocheihrer Reife ist zugleich auch die Epoche ihres zahlenmäßigen Reichtums an Meisterwerken(chefs-d’ œuvre). Das [392] läßt sich von der russischen Literatur nicht sagen. Wie die GeschichteRußlands selbst, gleicht ihre Geschichte der Geschichte keiner anderen Literatur.Deshalb bietet sie auch ein einmaliges, einzigartiges Schauspiel dar, das sofort sonderbar,unverständlich und beinahe sinnlos wird, wenn man sie betrachtet wie jede andere LiteraturEuropas. Wie alles, was im heutigen Rußland lebendig, schön und vernünftig ist, ist auchunsere Literatur ein Resultat der Reform Peters des Großen. Gewiß hat Peter sich nicht umdie Literatur gekümmert und nichts für ihr Entstehen getan, aber er hat sich um die Aufklärungbemüht, indem er die Samen der Wissenschaft und der Bildung auf die fruchtbare Erdedes russischen Geistes ausstreute – und in der Folge entstand, ohne sein Zutun als notwendigesResultat seiner Wirksamkeit, eine Literatur. Gerade darin bestand, nebenbei gesagt, dieorganische Lebendigkeit der umgestaltenden Wirksamkeit Peters des Großen, daß sie vieleshervorbrachte, woran er vielleicht gar nicht gedacht, was er sogar nicht einmal geahnt hat.Der begabte und kluge Kantemir, halb Imitator, halb Übersetzer der Satiren römischer Dichter(in erster Reihe Horaz’) und ihres französischen Nachahmers und Übersetzers in die Sprachefranzösischer Sitten, Boileaus, Kantemir mit seinem syllabischen * Versmaß, seiner halbpapiernen, halb volkstümlichen Sprache, die in ebendieser Mischung die Sprache der gebildetenGesellschaft jener Zeit war, Kantemir, und nach ihm Tredjakowski mit seiner sterilenGelehrtheit, seinem talentlosen Fleiß, seiner scholastischen Pedanterie, seinen mißglücktenVersuchen, der russischen Verskunst regelrechte akzentuierende Versmaße und antike Hexameterbeizubringen, mit seinen barbarischen Knittelversen und seiner barbarischen zweimaligenUmdichtung Rollins – Kantemir und Tredjakowski waren sozusagen der Prolog, dasVorwort zur russischen Literatur. Seit dem Tode des einen sind etwas mehr als 102 Jahre1 Zum erstenmal abgedruckt im Jahre 1847 im „Sowremennik“. Der in der Zeitschrift veröffentlichte Text weistwesentliche Kürzungen und abweichende Lesarten auf. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Text ergänztnach dem – allerdings auch unvollständig erhaltenen – Manuskript, das in der Lenin-Staatsbibliothek in Moskauaufbewahrt wird.* silbenweiseOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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