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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 23Frömmelei, leidenschaftliche Begeisterung für alles Neue und fanatisches Festhalten am Alten,Orgien und Siege, Luxus und Genügsamkeit, Kurzweil und herkulische Taten, großeGeister und große Charaktere aller Art und Farbe und dazwischen die Muttersöhnchen, dieProstakows, die Taras Skotinins und die Brigadiere 26 ; ein Adel, dessen weltläufige Bildungden französischen Hof [39] in Staunen versetzte, und ein Adel, der gemeinsam mit seinenKnechten auf Raub auszog! ...Und diese Gesellschaft fand nun in der Literatur ihre Widerspiegelung. Zwei Dichter, übrigensvon höchst ungleichem Genie, waren es, die ihr vor allem Ausdruck verliehen. Die donnerhallendenLieder Dershawins waren das Symbol für die Macht, den Ruhm und das GlückRußlands; die bissigen und witzigen Karikaturen Fonwisins waren das Sprachrohr für dieBegriffe und die Denkart der gebildetsten Menschenklasse der damaligen Zeit.Dershawin – welch ein Name! ... Ja, er hatte recht, der einzige Reim, der zu ihm paßte, war –Nawin, wie die griechisch-orthodoxe Bibelübersetzung den Propheten Josua nennt. Wie trefflichsteht ihm jene halb russische, halb tatarische Kleidung, in der wir ihn auf Gemälden abgebildetfinden. Gebt ihm Oberons Lilienzepter in die Hand und denkt euch zu dem Zobelpelzund der Biberkappe einen eisgrauen Rauschebart hinzu, und ihr habt einen alten russischenZauberer vor euch, unter dessen Odem der Schnee und das Eis der Flüsse schmelzen und Rosenerblühen, vor dessen Zauberspruch sich willig die Natur beugt und alle Formen und Gestaltenannimmt, die immer er begehrt! Eine wunderbare Erscheinung! Ein armer Edelmann, fast Analphabet,seinen Begriffen nach ein Kind, sich selbst ein ungelöstes Rätsel. Wer gab ihm dieseberedte Sprache des Propheten, die die Herzen aufwühlt und die Gemüter entflammt, diesentiefdringenden und weitreichenden Blick, mit dem er die Natur in all ihrer Unendlichkeit umfaßtwie ein junger Aar mit seinen mächtigen Krallen die zitternde Beute? Oder ist ihm am Endewirklich am Scheideweg der sechsfach geflügelte Cherubim erschienen? Oder gibt es tatsächlichAugenblicke, wo ein flammendes Gefühl den Sterblichen ohne sein Dazutun der Naturgleichstellt und diese ihm gehorsam ihre geheimsten Tiefen öffnet, ihn den Pulsschlag ihresHerzens sehen und aus dem Urquell ihres Schoßes jenes Lebenselixier schöpfen läßt, das selbstMetall und Marmor mit lebendigem Odem durchströmt? Oder macht das flammende Gefühlden Sterblichen wirklich allsehend, löst ihn in der Natur und die Natur in ihm auf, so daß er derNatur als ihr allmächtiger Beherrscher souverän gebietet und sich mit ihr, kraft seines Willens,einem Proteus gleich, in Tausenden von herrlichen Erscheinungen ergießt, sich in Tausendenvon wunderbaren Gestalten inkarniert, die er dann seine Schöpfungen nennt? ... Dershawin istder vollendete Aus-[40]druck, die lebendige Chronik, die Siegeshymne, der glühende Dithyrambus* der Zeit Katharinas mit ihrer lyrischen Begeisterung, ihrem Gegenwartsstolz und ihremZukunftshoffen, ihrer Aufgeklärtheit und ihrer Ignoranz, ihrem Epikureismus und ihremgierigen Tatendrang, ihrem schwelgenden Müßiggang und ihrer unverwüstlichen praktischenRegsamkeit! Vergeblich wird man in den Klängen seiner Lieder, die bald kühn und triumphierendwie Siegesdonner, bald ausgelassen und scherzend wie die Tafelgespräche unserer Ahnen,bald zärtlich und süß wie die Stimme russischer Jungfrauen tönen – vergeblich wird man hiereine scharfsinnige Analyse des Menschen mit allen Windungen seines Herzens und seiner Seelesuchen wie bei Shakespeare, auch keine süße Himmelssehnsucht und keine hochfliegendenTräume vom Heiligen und Ewigen des Lebens wie bei Schiller, kein wildes Klagen einer übersättigtenund dennoch nimmersatten Seele wie bei Byron; nein – wir hatten damals keine Zeit,die menschliche Natur zu sezieren, keine Zeit, uns in die Geheimnisse des Himmels und desLebens zu versenken, denn wir waren betäubt vom Siegesdonner, geblendet vom Ruhmesglanzund hatten vollauf mit neuen Verordnungen und Umgestaltungen zu tun; denn damals hatten26 Figuren aus zeitgenössischen Literaturwerken; hier sind deren Prototypen aus der Hofgesellschaft gemeint.* Gattung der antiken griechischen Chorlyrik, ein Hymnos zu Ehren des Gottes Dionysos, vorgetragen im Rahmender Dionysien im Wechselgesang zwischen Chor und Vorsinger.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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