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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 225Puschkin verstehen! ... Aber man soll nicht meinen, daß es sich bei alledem um rein literarischeUrteile handelt: nein, wenn man sich diese Repräsentanten der verschiedenen Epochenunserer Literatur und der verschiedenen Epochen unserer Gesellschaft näher ansieht und genaueranhört, kann man nicht umhin, zu bemerken, daß ihre literarischen und ihre alltäglichenBegriffe und Überzeugungen in mehr oder weniger lebendiger Beziehung zueinander stehen.Hinsichtlich ihrer literarischen Bildung im engeren Sinne sind diese Leute wie durch Jahrhundertevoneinander geschieden, denn unsere Literatur hat in etwas mehr als hundert Jahrenmehrere Jahrhunderte durchlaufen. Deshalb bestand ein so großer Unterschied zwischen derGesellschaft, die sich für die ungelenken Phrasen hochtrabender Oden und schwerfälliger epischerPoeme begeisterte, und der Gesellschaft, die an Lisas Teich Tränen vergoß; zwischender Gesellschaft, die mit wahrer Gier die „Ludmilla“ und die „Swetlana“ las, sich an den phantastischenSchrecknissen der „Zwölf schlafenden Jungfrauen“ berauschte oder zu den geheimnisvollenKlängen der „Äolsharfe“ in romantischer Melancholie verging – und der Gesellschaft,die über dem „Eugen Onegin“ sowohl den „Gefangenen im Kaukasus“ und die „Fontänevon Bachtschissarai“, über „Verstand schafft Leiden“ die Komödien Fonwisins, über dem„Boris Godunow“ den „Dmitrj Donskoj“ von Oserow vergaß (wie sie einst über diesem den„Falschen Demetrius“ von Sumarokow vergessen hatte) und schließlich unter Puschkin undLermontow für die Dichter erkaltete, die diesen vorausgingen; die schließlich über Gogolgänzlich alle die Romanciers und Novellisten vergaß, für die sie sich eben noch so begeisterthatte... Man denke nur einmal nach, was für ein unermeßlicher Zeitabschnitt zwischen dem„Iwan Wyshigin“, der 1829 erschien, und den „Toten Seelen“ liegt, die 1842 erschienen... DieseUnterschiede der literarischen Bildung der Gesellschaft gingen ins Leben über und teiltendie Menschen in Generationen, die verschieden handelten und dachten, verschiedene Überzeugungenbesaßen und deren lebhafte Dispute und polemische Auseinandersetzungen, da sieprinzipieller Natur sind und nicht materiellen Interessen entspringen, deutliche Anzeichendafür sind, daß in unserer Gesellschaft ein geistiges Leben entstanden ist und sich entfaltet.Das ist eine große Sache, und sie ist ganz das Werk unserer Literatur! ...[381] Die Literatur war für unsere Gesellschaft die lebendige Quelle sogar für Ideen der praktischenMoral. Sie begann als Satire und erklärte in der Person Kantemirs der Ignoranz, denVorurteilen, der Prozeßsucht, der Angeberei, den Gerichtsschikanen, der Bestechlichkeit undden Unterschlagungen unbarmherzig den Krieg, jenen Seiten des alten Gesellschaftslebens,die damals nicht Laster, sondern Lehensregeln und moralische Grundsätze waren. Man magvon Sumarokows Talent denken, was man will, aber seine satirischen Angriffe auf den„Brennesselsamen“ verdienen, daß der Historiker der russischen Literatur ihrer stets an hervorragenderStelle gedenkt. Die Komödien Fonwisins haben ihre Verdienste vor der Literatur,noch mehr aber vor der Gesellschaft. Etwa dasselbe kann man von dem „Angeber“Kapnists sagen. Die Fabel hat deshalb bei uns so gute Aufnahme gefunden, weil sie zur Gattungder satirischen Dichtung gehört. Auch ein so vorwiegend lyrischer Dichter wie Dershawinwar zugleich satirischer Dichter, zum Beispiel in der „Feliza“, dem „Würdenträger“ undanderen Stücken. Schließlich kam die Zeit, wo sich die Satire in unserer Literatur in einenHumor verwandelte, der in der künstlerischen Wiedergabe der Alltagswirklichkeit zum Ausdruckkommt. Es wäre natürlich lächerlich, anzunehmen, Satire, Komödie, Erzählung oderRoman seien imstande, einen lasterhaften Menschen zu bessern; aber es besteht kein Zweifel,daß sie, indem sie der Gesellschaft die Augen öffnen über ihr eigenes Leben und dazu beitragen,daß ihr Selbstbewußtsein erwacht, das Laster der Verachtung und der Schande preisgeben.Es hat seinen guten Grund, wenn viele Leute bei uns nur mit Haß den Namen Gogolnennen und seinen „Revisor“ als „unsittliches“ Werk bezeichnen, das eigentlich verbotenwerden müßte. Ebenso ist heute wohl niemand mehr so naiv, zu glauben, eine Komödie oderein Roman könnten einen bestechlichen Beamten zum ehrlichen Mann machen – nein, wennein krumm gewachsener Baum erst einmal groß und dick geworden ist, läßt er sich nicht wie-OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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