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13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 220Leitfaden für das Studium der theoretisch-materiellen Philosophievon Alexander Petrowitsch TatarinowSt. PetersburgIn der Druckerei von Eduard Pratz,1844, Oktavformat, 40 Seiten 1Deutschland ist das Vaterland der Philosophie der neuen Zeit. Wenn man von Philosophiespricht, versteht man darunter stets die deutsche, weil die Menschheit keine andere Philosophiebesitzt. In allen anderen Ländern ist die Philosophie der Versuch einer Einzelperson, bestimmteFragen des Seins zu beantworten; in Deutschland ist die Philosophie eine sich historischentwickelnde Wissenschaft; ihre Behandlung geht schrittweise von einer Generation andie andere über. Kant hat als erster die festen Grundsätze der neueren Philosophie aufgestelltund ihr wissenschaftliche Form gegeben. Fichte brachte mit seiner Lehre das zweite Momentder Entwicklung der Philosophie zum Ausdruck: Obwohl er unabhängig von Kant wirkte undsogar polemisch gegen ihn Stellung nahm, war er dennoch nur der Fortführer des von Kantbegonnenen Werks, Schelling und Hegel sind die Repräsentanten der weiteren Bewegung derPhilosophie. Heute zerfällt der Hegelianismus in drei Richtungen – einen rechten Flügel, derbei dem letzten Wort der Hegelschen Philosophie stehengeblieben ist und darüber nicht hinausgeht;in den linken Flügel, der von Hegel abgefallen ist und seinen Fortschritt auf die lebendigeVersöhnung der Philosophie mit dem Leben, der Theorie mit der Praxis stützt; und indas Zentrum, das eine Art Mittelding zwischen dem toten Stillstand des rechten und derschnell vorwärtsstrebenden Bewegung des linken Flügels bildet. Wenn wir sagten, daß derlinke Flügel der Hegelianer von seinem Lehrer abgefallen ist, so bedeutet das nicht, daß erdessen große Verdienste im Bereich [371] der Philosophie leugnet und Hegels Lehre für leerund unfruchtbar hält. Nein, es bedeutet nur, daß er weitergehen will und bei aller Achtung vordem großen Philosophen die Autorität des menschlichen Geistes höher stellt als den Geist derAutorität Hegels. So ist Fichte von Kant abgefallen; so hat sich Schelling durch den Geist seinerLehre gegen Kant und Fichte erklärt; so ist Schellings Schüler, Hegel, von Schelling abgefallen;doch keiner von ihnen kam auf den Gedanken, die Verdienste seines Vorgängers zuleugnen, und jeder von ihnen glaubte, daß er seinen Erfolg der Arbeit des Vorgängers zu verdankenhabe. Dieser Gang der deutschen Philosophie hat private Philosophierereien nunmehrunmöglich gemacht. Wer sich heute in Deutschland auf dem Feld der Philosophie betätigenwill, darf nicht mehr bloß in der Presse erklären: „Ich denke so“, sondern muß ganze Jahreschwerer Arbeit dem sachlichen und gründlichen Studium alles dessen widmen, was auf demGebiete der Philosophie geleistet wurde – muß auf der Höhe der Zeit stehen. 2Von diesem Standpunkt aus gibt es nichts Ergötzlicheres als die russische Philosophie unddie russischen Bücher über philosophische Fragen. Um die Philosophie als Wissenschaftkümmert sich bei uns niemand; aber alle unsere Philosophen bilden sich ein, um zum Philosophenzu werden, genüge es, den Willen dazu zu haben. Die Philosophie zu studieren, haltensie nicht für nötig; es fällt ihnen leichter, zu erklären, daß alle deutschen Philosophen lügen,als auch nur einen von ihnen zu lesen. Unsere Philosophen verstehen nicht, daß die Philosophiebei uns noch keinen Boden hat, daß es noch kein Bedürfnis für sie gibt. Unseren Philosophenwandelt plötzlich, aus heiterem Himmel, das Verlangen an, ein bißchen herumzuphilosophieren,und da man für Geschwätz keine Steuern zu zahlen braucht, kommt als Resultat1 Zum erstenmal abgedruckt im Jahre 1848 in den „Otetschestwennyje Sapiski“.2 Belinski war nur ungenügend bekannt mit den Arbeiten der hervorragenden Vertreter des englischen und desfranzösischen Materialismus des 17. und des 18. Jahrhunderts, die in der Entwicklung des menschlichen Denkenseine sehr große Rolle gespielt haben.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 221eines solchen unerwarteten Philosophieanfalls ein Büchelchen zustande, in dem alles gesagt,alles erklärt, alles beantwortet ist, außer der einen Frage – warum und für wen dieses ganzeZeug geschrieben wurde. 3Wohl der kühnste aller unserer Philosophen ist Herr Alexander Petrowitsch Tatarinow: aufvierzig in großer Schrift abscheulich gedruckten Seiten entwickelt er irgendeine noch niedagewesene theoretisch-praktische Philosophie und löst klar und endgültig das Problem, wasdie Wahrheit, das Gute und das Schöne sind; die Wahrheit ist bei ihm die Wahrheit, das Gute– das Gute und das Schöne –das Schöne. Kurz und klar! Von den Philosophen vor ihm weißer [372] nur ein bißchen was von Locke, Leibniz und Kant, vom weiteren Verlauf der Philosophiehat er jedoch nicht die geringste Kenntnis. Wozu und für wen ist dieses Heftchen(Buch oder selbst Büchelchen kann man es nicht nennen) eigentlich geschrieben? Für den,der auch nur einigermaßen eine Vorstellung von Philosophie hat, ist das Heftchen des HerrnTatarinow einfach ein Witz; wer daher von Philosophie überhaupt keine Vorstellung hat,wird in ihm, diesem Heftchen, absolut nichts verstehen. [373]3 Belinski dachte hier an die Schriften der „philosophierenden“ Panslawisten und Geistlichen. In der legalenPresse konnte er nicht offen die Sympathie und die Achtung aussprechen, die er für die echten russischem Philosophenund die Bekämpfer der Leibeigenschaft empfand. Mit dem Hinweis, daß es in Rußland „keinen Boden“,„kein Bedürfnis“ für Philosophie gäbe, meinte Belinski die bedrückende Leibeigenschaft und die Rückständigkeitdes damaligen Rußlands im Vergleich mit den fortgeschrittenen Ländern Europas.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 221eines solchen unerwarteten Philosophieanfalls ein Büchelchen zustande, in dem alles gesagt,alles erklärt, alles beantwortet ist, außer der einen Frage – warum und für wen dieses ganzeZeug geschrieben wurde. 3Wohl der kühnste aller unserer Philosophen ist Herr Alexander Petrowitsch Tatarinow: aufvierzig in großer Schrift abscheulich gedruckten Seiten entwickelt er irgendeine noch niedagewesene theoretisch-praktische Philosophie und löst klar und endgültig das Problem, wasdie Wahrheit, das Gute und das Schöne sind; die Wahrheit ist bei ihm die Wahrheit, das Gute– das Gute und das Schöne –das Schöne. Kurz und klar! Von den Philosophen vor ihm weißer [372] nur ein bißchen was von Locke, Leibniz und Kant, vom weiteren Verlauf der Philosophiehat er jedoch nicht die geringste Kenntnis. Wozu und für wen ist dieses Heftchen(Buch oder selbst Büchelchen kann man es nicht nennen) eigentlich geschrieben? Für den,der auch nur einigermaßen eine Vorstellung von Philosophie hat, ist das Heftchen des HerrnTatarinow einfach ein Witz; wer daher von Philosophie überhaupt keine Vorstellung hat,wird in ihm, diesem Heftchen, absolut nichts verstehen. [373]3 Belinski dachte hier an die Schriften der „philosophierenden“ Panslawisten und Geistlichen. In der legalenPresse konnte er nicht offen die Sympathie und die Achtung aussprechen, die er für die echten russischem Philosophenund die Bekämpfer der Leibeigenschaft empfand. Mit dem Hinweis, daß es in Rußland „keinen Boden“,„kein Bedürfnis“ für Philosophie gäbe, meinte Belinski die bedrückende Leibeigenschaft und die Rückständigkeitdes damaligen Rußlands im Vergleich mit den fortgeschrittenen Ländern Europas.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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