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13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 22mals also atmete es zum erstenmal frei auf, lächelte froh und hob stolz den Blick – denn nichtgetrieben wurde es mehr zu dem großen Ziel, sondern nach seinem Willen befragt und mitseiner Zustimmung ihm zugeführt; denn verstummt war das drohende „Im Namen des Gesetzes“,und statt dessen erklang es vom Thron herab: „Lieber will ich zehn Schuldigen vergeben,als einen Unschuldigen bestrafen; wir geruhen und rechnen es uns zum Ruhme an, zusagen, daß wir für unser Volk leben; verhüte Gott, daß irgendein Volk glücklicher lebe alsdas russische“; denn mit dem „Rangstatut“ und dem „Adelspatent“ verband sich nunmehr dieUnantastbarkeit der Rechte des Adels; denn lieblich schaute der Donnerklang ununterbrochenerSiege und Eroberungen an das Ohr Rußlands. Damals geschah es, daß der russische Geisterwachte, und nun werden Schulen errichtet, alle für eine elementare Schulbildung erforderlichenBücher herausgegeben, wird alles Gute aus allen europäischen Sprachen übersetzt; dasrussische Schwert begann sich zu rühren, und schon wanken Monarchien in ihren Grundfesten,stürzen Reiche und verschmelzen mit Rußland! ...Wissen Sie, was das Unterscheidungsmerkmal der Zeit Katharinas II., dieser großen Epoche,dieses lichten Momentes im Leben des russischen Volkes war? Ich glaube, es war der Volksgeist.Jawohl, der Volksgeist, denn Rußland, das sich nach wie vor fremder Art anpassenwollte, blieb damals, wie sich selbst zum Trotz, dennoch Rußland. Man denke an die würdevollen,freundlichen Bojaren, deren Häuser Allerweltsgasthöfen ähnelten, wo Geladene undUngeladene Zutritt fanden und sich, ohne dem gastlichen Hausherrn ihren Gruß zu entbieten,am schweren, prächtig bestellten Eichentisch zu Schmaus und Trank niederließen; man denkean die majestätisch stolzen Würdenträger, die ein Leben aus dem Vollen liebten, deren Behausungenden Zarengemächern aus dem russischen Mär-[38]chen glichen, die einen ganzenHofstaat von Höflingen, Schranzen und Schmeichlern um sich hatten, bei Feuerwerken staatlicheWertpapiere verbrannten; die verstanden, nach alter Vorväterweise zu bechern und zufeiern, von ganzem russischem Herzen, aber auch mit Schwert und Feder für ihr MütterchenZarin einzustehen: muß man nicht sagen, daß das ein Leben von selbständiger Art und eineGesellschaft voll Originalität war? Man denke an diesen Suworow, der den Krieg nicht kannte,den aber der Krieg kannte; an Potjomkin, der sich bei Tafel die Nägel kaute und zwischenzwei Scherzen in Gedanken das Schicksal von Völkern entschied; an jenen Besborodko, vondem es heißt, er habe nach durchzechten Nächten der Zarin von leeren Blättern selbstverfaßtediplomatische Schreiben vorgelesen; an jenen Dershawin, der bei aller verzweifelten Nachahmungdes Horaz gegen seinen Willen doch Dershawin blieb und mit dem Dichter des Augustusebensoviel Ähnlichkeit hatte wie der mächtige russische Winter mit dem üppigenSommer Italiens. Muß man da nicht sagen, daß die Natur jeden dieser Männer in eine ganzbesondere Form gegossen und nach dem Guß diese Form wieder in tausend Stücke zerschlagenhat? ... Kann man aber originell und selbständig sein, ohne am Volksgeist teilzuhaben? ...Woher kam das alles? Daher, wiederhole ich, daß der russische Geist einen weiten Spielraumbekommen hatte, daher, daß der russische Genius nun mit entfesselten Händen einherschritt,daß eine große Frau sich den Geist ihres Volkes zu eigen gemacht hatte, daß sie alle Volkswertehoch achtete, alles Russische so wert hielt, daß sie selbst verschiedene Schriften aufRussisch verfaßte, eine Zeitschrift leitete und ihre Untertanen wegen Verachtung der Mutterspracheder höchst peinlichen Bestrafung durch die „Telemachide“ unterzog! ... 25Ja, wunderlich und staunenswert war diese Zeit, noch wunderlicher und staunenswerter warjedoch diese Gesellschaft! Was für ein Mischmasch, was für eine bunte Mannigfaltigkeit!Wie viele verschiedenartige, doch miteinander verschmolzene, von einem Geist beseelteElemente! Atheismus und sturer Aberglaube, Roheit und Raffinement, Materialismus und25 Die „Bestrafung durch die ‚Telemachide‘“, die scherzweise am Hofe Katharinas II. zur Anwendung kam,bestand darin, daß der Schuldige je nach dem Grad seiner Schuld aus dem genannten Poem Tredjakowskis eineSeite vorlesen oder einige Zeilen auswendig lernen mußte.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 23Frömmelei, leidenschaftliche Begeisterung für alles Neue und fanatisches Festhalten am Alten,Orgien und Siege, Luxus und Genügsamkeit, Kurzweil und herkulische Taten, großeGeister und große Charaktere aller Art und Farbe und dazwischen die Muttersöhnchen, dieProstakows, die Taras Skotinins und die Brigadiere 26 ; ein Adel, dessen weltläufige Bildungden französischen Hof [39] in Staunen versetzte, und ein Adel, der gemeinsam mit seinenKnechten auf Raub auszog! ...Und diese Gesellschaft fand nun in der Literatur ihre Widerspiegelung. Zwei Dichter, übrigensvon höchst ungleichem Genie, waren es, die ihr vor allem Ausdruck verliehen. Die donnerhallendenLieder Dershawins waren das Symbol für die Macht, den Ruhm und das GlückRußlands; die bissigen und witzigen Karikaturen Fonwisins waren das Sprachrohr für dieBegriffe und die Denkart der gebildetsten Menschenklasse der damaligen Zeit.Dershawin – welch ein Name! ... Ja, er hatte recht, der einzige Reim, der zu ihm paßte, war –Nawin, wie die griechisch-orthodoxe Bibelübersetzung den Propheten Josua nennt. Wie trefflichsteht ihm jene halb russische, halb tatarische Kleidung, in der wir ihn auf Gemälden abgebildetfinden. Gebt ihm Oberons Lilienzepter in die Hand und denkt euch zu dem Zobelpelzund der Biberkappe einen eisgrauen Rauschebart hinzu, und ihr habt einen alten russischenZauberer vor euch, unter dessen Odem der Schnee und das Eis der Flüsse schmelzen und Rosenerblühen, vor dessen Zauberspruch sich willig die Natur beugt und alle Formen und Gestaltenannimmt, die immer er begehrt! Eine wunderbare Erscheinung! Ein armer Edelmann, fast Analphabet,seinen Begriffen nach ein Kind, sich selbst ein ungelöstes Rätsel. Wer gab ihm dieseberedte Sprache des Propheten, die die Herzen aufwühlt und die Gemüter entflammt, diesentiefdringenden und weitreichenden Blick, mit dem er die Natur in all ihrer Unendlichkeit umfaßtwie ein junger Aar mit seinen mächtigen Krallen die zitternde Beute? Oder ist ihm am Endewirklich am Scheideweg der sechsfach geflügelte Cherubim erschienen? Oder gibt es tatsächlichAugenblicke, wo ein flammendes Gefühl den Sterblichen ohne sein Dazutun der Naturgleichstellt und diese ihm gehorsam ihre geheimsten Tiefen öffnet, ihn den Pulsschlag ihresHerzens sehen und aus dem Urquell ihres Schoßes jenes Lebenselixier schöpfen läßt, das selbstMetall und Marmor mit lebendigem Odem durchströmt? Oder macht das flammende Gefühlden Sterblichen wirklich allsehend, löst ihn in der Natur und die Natur in ihm auf, so daß er derNatur als ihr allmächtiger Beherrscher souverän gebietet und sich mit ihr, kraft seines Willens,einem Proteus gleich, in Tausenden von herrlichen Erscheinungen ergießt, sich in Tausendenvon wunderbaren Gestalten inkarniert, die er dann seine Schöpfungen nennt? ... Dershawin istder vollendete Aus-[40]druck, die lebendige Chronik, die Siegeshymne, der glühende Dithyrambus* der Zeit Katharinas mit ihrer lyrischen Begeisterung, ihrem Gegenwartsstolz und ihremZukunftshoffen, ihrer Aufgeklärtheit und ihrer Ignoranz, ihrem Epikureismus und ihremgierigen Tatendrang, ihrem schwelgenden Müßiggang und ihrer unverwüstlichen praktischenRegsamkeit! Vergeblich wird man in den Klängen seiner Lieder, die bald kühn und triumphierendwie Siegesdonner, bald ausgelassen und scherzend wie die Tafelgespräche unserer Ahnen,bald zärtlich und süß wie die Stimme russischer Jungfrauen tönen – vergeblich wird man hiereine scharfsinnige Analyse des Menschen mit allen Windungen seines Herzens und seiner Seelesuchen wie bei Shakespeare, auch keine süße Himmelssehnsucht und keine hochfliegendenTräume vom Heiligen und Ewigen des Lebens wie bei Schiller, kein wildes Klagen einer übersättigtenund dennoch nimmersatten Seele wie bei Byron; nein – wir hatten damals keine Zeit,die menschliche Natur zu sezieren, keine Zeit, uns in die Geheimnisse des Himmels und desLebens zu versenken, denn wir waren betäubt vom Siegesdonner, geblendet vom Ruhmesglanzund hatten vollauf mit neuen Verordnungen und Umgestaltungen zu tun; denn damals hatten26 Figuren aus zeitgenössischen Literaturwerken; hier sind deren Prototypen aus der Hofgesellschaft gemeint.* Gattung der antiken griechischen Chorlyrik, ein Hymnos zu Ehren des Gottes Dionysos, vorgetragen im Rahmender Dionysien im Wechselgesang zwischen Chor und Vorsinger.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 22mals also atmete es zum erstenmal frei auf, lächelte froh und hob stolz den Blick – denn nichtgetrieben wurde es mehr zu dem großen Ziel, sondern nach seinem Willen befragt und mitseiner Zustimmung ihm zugeführt; denn verstummt war das drohende „Im Namen des Gesetzes“,und statt dessen erklang es vom Thron herab: „Lieber will ich zehn Schuldigen vergeben,als einen Unschuldigen bestrafen; wir geruhen und rechnen es uns zum Ruhme an, zusagen, daß wir für unser Volk leben; verhüte Gott, daß irgendein Volk glücklicher lebe alsdas russische“; denn mit dem „Rangstatut“ und dem „Adelspatent“ verband sich nunmehr dieUnantastbarkeit der Rechte des Adels; denn lieblich schaute der Donnerklang ununterbrochenerSiege und Eroberungen an das Ohr Rußlands. Damals geschah es, daß der russische Geisterwachte, und nun werden Schulen errichtet, alle für eine elementare Schulbildung erforderlichenBücher herausgegeben, wird alles Gute aus allen europäischen Sprachen übersetzt; dasrussische Schwert begann sich zu rühren, und schon wanken Monarchien in ihren Grundfesten,stürzen Reiche und verschmelzen mit Rußland! ...Wissen Sie, was das Unterscheidungsmerkmal der Zeit Katharinas II., dieser großen Epoche,dieses lichten Momentes im Leben des russischen Volkes war? Ich glaube, es war der Volksgeist.Jawohl, der Volksgeist, denn Rußland, das sich nach wie vor fremder Art anpassenwollte, blieb damals, wie sich selbst zum Trotz, dennoch Rußland. Man denke an die würdevollen,freundlichen Bojaren, deren Häuser Allerweltsgasthöfen ähnelten, wo Geladene undUngeladene Zutritt fanden und sich, ohne dem gastlichen Hausherrn ihren Gruß zu entbieten,am schweren, prächtig bestellten Eichentisch zu Schmaus und Trank niederließen; man denkean die majestätisch stolzen Würdenträger, die ein Leben aus dem Vollen liebten, deren Behausungenden Zarengemächern aus dem russischen Mär-[38]chen glichen, die einen ganzenHofstaat von Höflingen, Schranzen und Schmeichlern um sich hatten, bei Feuerwerken staatlicheWertpapiere verbrannten; die verstanden, nach alter Vorväterweise zu bechern und zufeiern, von ganzem russischem Herzen, aber auch mit Schwert und Feder für ihr MütterchenZarin einzustehen: muß man nicht sagen, daß das ein Leben von selbständiger Art und eineGesellschaft voll Originalität war? Man denke an diesen Suworow, der den Krieg nicht kannte,den aber der Krieg kannte; an Potjomkin, der sich bei Tafel die Nägel kaute und zwischenzwei Scherzen in Gedanken das Schicksal von Völkern entschied; an jenen Besborodko, vondem es heißt, er habe nach durchzechten Nächten der Zarin von leeren Blättern selbstverfaßtediplomatische Schreiben vorgelesen; an jenen Dershawin, der bei aller verzweifelten Nachahmungdes Horaz gegen seinen Willen doch Dershawin blieb und mit dem Dichter des Augustusebensoviel Ähnlichkeit hatte wie der mächtige russische Winter mit dem üppigenSommer Italiens. Muß man da nicht sagen, daß die Natur jeden dieser Männer in eine ganzbesondere Form gegossen und nach dem Guß diese Form wieder in tausend Stücke zerschlagenhat? ... Kann man aber originell und selbständig sein, ohne am Volksgeist teilzuhaben? ...Woher kam das alles? Daher, wiederhole ich, daß der russische Geist einen weiten Spielraumbekommen hatte, daher, daß der russische Genius nun mit entfesselten Händen einherschritt,daß eine große Frau sich den Geist ihres Volkes zu eigen gemacht hatte, daß sie alle Volkswertehoch achtete, alles Russische so wert hielt, daß sie selbst verschiedene Schriften aufRussisch verfaßte, eine Zeitschrift leitete und ihre Untertanen wegen Verachtung der Mutterspracheder höchst peinlichen Bestrafung durch die „Telemachide“ unterzog! ... 25Ja, wunderlich und staunenswert war diese Zeit, noch wunderlicher und staunenswerter warjedoch diese Gesellschaft! Was für ein Mischmasch, was für eine bunte Mannigfaltigkeit!Wie viele verschiedenartige, doch miteinander verschmolzene, von einem Geist beseelteElemente! Atheismus und sturer Aberglaube, Roheit und Raffinement, Materialismus und25 Die „Bestrafung durch die ‚Telemachide‘“, die scherzweise am Hofe Katharinas II. zur Anwendung kam,bestand darin, daß der Schuldige je nach dem Grad seiner Schuld aus dem genannten Poem Tredjakowskis eineSeite vorlesen oder einige Zeilen auswendig lernen mußte.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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