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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 198ist es ja gerade, daß die Tatsachen bei der Geschichtsschreibung, von der wir hier reden, nichtin ihrem historischen, sondern nur im chronologischen Zusammenhang, in ihrer Aufeinanderfolgedargelegt werden, und infolgedessen sind sie mehr als entstellt – sie verlieren jedenSinn, und wer seine Kenntnisse aus einem solchen Buch zu bereichern versuchen würde, derkäme in der Erkenntnis der Geschichte keinen Schritt weiter, auch wenn er bis dahin nicht diegeringste Vorstellung von dieser Wissenschaft gehabt hätte. Alles das kommt daher, daß esaußer der Darstellung der Ereignisse auch noch die Beurteilung der Ereignisse gibt – nichtdeshalb übrigens, weil der Historiker sie unbedingt beurteilen möchte, sondern einfach schondeshalb, weil er es unternommen hat, sie darzustellen. Wir wollen das an einem Beispielklarmachen. Wenn jemand in Gesellschaft irgendeinen wichtigen, wenn auch privaten Vorfallzu erzählen beginnt, der sich mit irgend jemand anderem zugetragen hat, so werden die Zuhörer,je ungewöhnlicher dieser Vorfall ist, den Erzähler desto schneller fragen, warum die Person,von der er erzählt, dies und nicht jenes getan oder so und nicht anders gehandelt hat?Natürlich, wenn der Erzähler jede Erklärung ablehnt, wo er doch nur zu sagen brauchte, wasder Mensch vorstellt, von dem er erzählt, welchen Charakter, welchen Bildungsgrad er besitzt,was Erziehung, [333] Denkweise, Neigungen, Gewohnheiten usw. aus ihm gemachthaben – werden die Hörer den Vorfall, so interessant er an sich auch sein mag, überhauptnicht verstehen. Dieses Bedürfnis, zu verstehen, ist aber den Menschen so angeboren undgehört so zu ihrer Natur, daß sie stets bereit sind, sich eher mit irgendeiner, selbst völlig unbegründetenVermutung zufrieden zu geben, als die Tatsache, so wie sie ist, in ihrer sinnlosenExaktheit hinzunehmen. Sagt aber der Erzähler auch nur einen einzigen Satz, wie etwa: ichglaube, das kam daher, oder: das wäre nicht geschehen, wenn – dann erzählt er bereits nichtmehr einfach den Fall, sondern er beurteilt ihn auch. Hat er es gar verstanden, ohne alle Erläuterungenund Urteile so zu erzählen, daß jedermann das ungewöhnliche Ereignis als natürlichesverstanden hat – dann ist das ein deutliches Anzeichen dafür, daß das Urteil in seinerErzählung eine weitaus größere Rolle gespielt hat, als es auf den ersten Blick scheinen könnte:es lag in der ganzen Erzählung selbst verborgen, durchtränkte sie, gab ihr Sinn und Charakter;der Erzähler war offenbar bis zu den Ursachen des Vorfalls vorgedrungen und hattesich schon eine Meinung über ihn gebildet. Es versteht sich, daß diese Meinung um so richtigerist, je näher sie der Wahrheit kommt, und umgekehrt. Jedenfalls aber spielt die Persönlichkeitdes Erzählers hierbei eine große Rolle: sobald der Erzählende ein Urteil erkennenließ, gab er damit auch sich selbst zu erkennen: seine Auffassung von den Dingen, seinenBildungsgrad, sogar seinen Charakter. Alles Lebendige besitzt eine Vielzahl von Seiten, undder eine erfaßt nur eine Seite des Gegenstandes, ein anderer zwei Seiten, ein dritter – mehrere,ein vierter eine große Zahl dieser Seiten. Jeder von ihnen hat recht in bezug auf jene Seitedes Gegenstandes, die ihm zugänglicher ist, obgleich er ebendeshalb vielleicht in bezug aufandere Seiten des gleichen Gegenstandes unrecht hat. Wer jedoch einen Gegenstand, den ervor sich sieht, von überhaupt keinem Standpunkt aus betrachtet, der hat wenig davon, daß erAugen besitzt. Wenn ein solcher Mensch über einen Gegenstand spricht, den er sieht, ist ernichts anderes als ein Spiegel, und noch dazu ein gekrümmter, ist eine Sprechmaschine – undes ist ja bekannt, wie man Menschen nennt, die nicht mehr vorstellen als eine Maschine...Wie kann also der Historiker bei aller Gewissenhaftigkeit, bei allem heißen Bemühen, dieTatsachen richtig wiederzugeben – wie kann er wahrheitsgetreu zum Beispiel über dieKreuzzüge berichten, [334] ohne sich auf eine Beurteilung des Sinns und der Bedeutung diesesgroßen Ereignisses einzulassen? Und was erfahren wir schon von ihm, wenn er sagt, daßdie Kreuzzüge im 11. Jahrhundert begannen, bis zum 14. Jahrhundert dauerten und von diesenund jenen Umständen begleitet waren. Nein, wir wollen unbedingt auch noch wissen,warum die Kreuzzüge Europa nur bis zum 14. Jahrhundert beschäftigen konnten? Und warumsie im 15. Jahrhundert und später bereits völlig undenkbar wurden? Wenn der Historikeruns antwortet, die Zeiten seien damals religiös gewesen, so werden wir ihn fragen, warum dieOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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