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13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 196Leitfaden für das Studium der Geschichte der NeuzeitFür Mittelschulen, verfaßt von S. Smaragdow,Professor am Kaiserlichen AlexanderlyzeumSt. Petersburg, 1844 1Das Werk des Herrn Smaragdow ist nun abgeschlossen. Vor uns liegt der letzte Band seinerWeltgeschichte für Lehranstalten. Das gibt uns die Möglichkeit, unsere Meinung über denWert dieser Geschichte als ganzes und geschlossenes Werk zu sagen. Der Leser weiß, daßwir die ersten beiden Bände der Geschichte des Herrn Smaragdow mit jener freudigen Aufmerksamkeitbegrüßt haben, die alles verdient, was, sei es auch nur ein wenig, die Grenzendes Herkömmlichen überschreitet, wo sich ein Drang nach Neuem und Besserem, wo sichdas Streben erkennen läßt, die alten ausgefahrenen Gleise zu verlassen, auf denen die trägeGewohnheit und dumpfe Mittelmäßigkeit so vergnügt und ungehemmt spazierenfährt. Wirkönnen noch mehr sagen: Herrn Smaragdows Werk, das so unerwartet an die Stelle der Geschichtedes Herrn Kaidanow getreten ist, die mit einer erstaunlichen Aufdringlichkeit schondrauf und dran war, die Rolle des Ewigen Juden in unserer Lehrbücherliteratur zu übernehmen– Herrn Smaragdows Werk löste in uns ein Gefühl aus, das eher der Begeisterung als derAblehnung oder kühlen Gleichgültigkeit ähnelte. Außer den bereits erwähnten Umständen istder Grund hierfür auch darin zu suchen, daß der erste Band der Geschichte des Herrn Smaragdowvor dem ersten Band der Geschichte des Herrn Lorenz erschien, ebenso wie auchseine Geschichte des Mittelalters früher als die von Herrn Lorenz herauskam. Herrn SmaragdowsGeschichte hat übrigens, obwohl sie hinter der Geschichte des Herrn Lorenz weitzurückbleibt, doch auch ihre unbestreitbaren Vorzüge und ist ein wichtiger Beitrag zu unsererhistorischen Lehrbücherliteratur, die an guten Werken so arm ist. Wenn auch ein GelehrterHerrn Smaragdows [330] Geschichte des Mittelalters wesentliche Mängel und sogar Schnitzervorgeworfen hat, so besitzt sie dennoch in unserer Literatur vollen Anspruch auf wohlwollendeBeachtung, besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Geschichte des Mittelaltersauch in Europa weniger bearbeitet und in zusammenhängender Geschlossenheit dargestelltist als die des Altertums und der Neuzeit. Aus allen diesen Gründen erwarteten wir mitbesonderer Ungeduld das Erscheinen der „Geschichte der Neuzeit“ dieses Autors – erwartetensie als Bestätigung der Hoffnungen, die der neue Kampfgefährte auf dem schwierigen undschlüpfrigen Boden der historischen Lehrbücherliteratur erweckt hatte, oder... wenn nicht alsZerstörung, so als Abkühlung dieser Hoffnung. Die Geschichte der Neuzeit ist vor allem einPrüfstein für die Begabung jedes Historikers: mehr als in der Geschichte des Altertums unddes Mittelalters müssen bei ihr alle Sympathien und Überzeugungen, die ganze Unparteilichkeitund zugleich der ganze Enthusiasmus, die ganze lebendige Menschlichkeit des Historikersin Erscheinung treten. Bevor wir uns darüber aussprechen, ob Herrn Smaragdows Geschichteder Neuzeit unsere Hoffnungen gerechtfertigt hat oder nicht, halten wir es für nötig,unsere Auffassung von der Geschichte als von einer modernen Wissenschaft erneut darzulegen,damit der Leser sieht, worauf sich die Anforderungen stützen, die wir an jedes Lehrbuchder Geschichte, und folglich auch an die Geschichte des Herrn Smaragdow, stellen.Die einfachste Definition der Geschichte besteht darin, daß wir den Bereich ihres Inhalts beider Darlegung der Tatsachen auf historische Treue beschränken. Nach dieser Definition mußder Historiker gegen Beanstandungen von seiten der Kritik gefeit sein, wenn er die Ereignissegut kennt und getreu wiedergibt. Das ist wirklich die Auffassung, die viele Menschen von derGeschichte haben. Infolgedessen sprechen sie hartnäckig allem, was man Meinung, Ansicht,Verständnis, Überzeugung oder – vor allem – Philosophie nennt, das Recht der Einmischung1 Zum erstenmal abgedruckt im Jahre 1844 in den „Otetschestwennyje Sapiski“.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 197in die Darstellung der Ereignisse ab, weil alles dies nach ihrer Meinung die Wirklichkeit derTatsachen nur verdunkelt und entstellt und die heilige Unantastbarkeit der historischenWahrheit verletzt. Zur Bekräftigung dieser ihrer Meinung verweisen sie triumphierend aufjene Historiker, vor allem die deutschen, die auf Grund einer vorgefaßten Idee Geschichteschreiben und die Tatsachen aus dem Wunsch heraus, sie um jeden Preis auf das Prokrustesbett* ihrer Anschauungen zu spannen, un-[331]gewollt entstellen. Tatsächlich hat es sehrviele solcher Historiker gegeben, und was man ihnen als Mangel anrechnet, ist tatsächlichkein Vorzug. Aber es fragt sich nun: kann ein Mann, dem jede wie auch immer geartete eigeneAuffassung von den historischen Tatsachen fehlt, diese Tatsachen richtig darlegen? – Erkann es, wenn unter der historischen Wahrheit von Tatsachen lediglich die geographischeund die chronologische Wahrheit verstanden werden soll. In diesem Falle ließen sich die vortrefflichenHistoriker beinahe nach Tausenden zählen – denn was ist weiter dabei, mit einigemFleiß und vulgärer empirischer Gelahrtheit eine Unzahl von Chroniken und anderer keinemZweifel unterliegender historischer Quellen nicht nur zu studieren, sondern sogar auswendigzu lernen. Es hat ja doch auch sonderbare Käuze gegeben, die genug Geduld hatten,auszurechnen, wie viele Buchstaben in der Bibel stehen. Was ist weiter dabei, herauszubekommen,in welchem Staat und welchem Jahrhundert Alexander von Mazedonien geborenwurde, lebte und starb, oder wie am Schnürchen herzusagen, was er Tag für Tag tat? Ist esetwa so unmöglich schwer, jeden der alten oder der neueren Schriftsteller, der zehn Bändeoder zehn Zeilen über Alexander von Mazedonien geschrieben hat, hundertmal von A bis Zzu lesen und alle diese Schriftsteller zu vergleichen und aneinander zu verifizieren; schließlichdie Zuverlässigkeit aller, auch der kleinsten Tatsachen aus dem Leben dieses Riesen derAntike kritisch zu untersuchen? Wir wollen damit durchaus nicht sagen, daß das leicht ist unddaß eine Erudition ** dieser Art gar keinen Wert hat: nein, sie ist notwendig als eines derHilfsmittel des Historikers, aber eben nicht mehr als eins unter andern Hilfsmitteln! Wer esfertigbringt, sich einzig und allein hiermit zu beschäftigen, der hat es leicht, ein Wunder vonGelehrsamkeit zu werden und seinen Kopf in eine riesige Bibliothek zu verwandeln, bei deralle Welt sich Auskunft holt. Das ist um so leichter möglich, als hierzu sehr wenig Geist undnur sehr viel Geduld und pedantische Kleinkrämerei nötig ist. Und nehmen wir nun einmalan, daß irgendein Herr sich eine solche riesige Tatsachen-Gelehrtheit angeeignet hat und ohneStocken Auskunft geben kann, in welchem Jahr, in welchem Monat und an welchem TageAlexander von Mazedonien geboren wurde, wie er den Kopf geneigt trug, von welcher Farbeseine Augen waren, auf welcher Schulter er ein Muttermal hatte (wenn er eins hatte), undschließlich, was er in seinem 24. Lebensjahr am 7. Februar eine Stunde nach dem Mittagessentat. [332] Nehmen wir weiter an, daß dieser Herr die Philosophie nicht leiden kann undeinzig und allein von der unerschütterlichen Zuverlässigkeit der Tatsachen in Ehrfurcht vergehtund es für eine Sünde hält, bei der Darstellung großer Ereignisse der Vergangenheit seineeigene Persönlichkeit zu wahren. Kann man sich denn vorstellen, daß, wenn er sich daranmacht, Geschichte zu schreiben, dann unbedingt der wahrheitsgetreueste Bericht über dieTaten der Völker und der historischen Persönlichkeiten zustande kommt? – Nein, und tausendmalnein: In seiner Geschichte wird man bedeutend weniger historische Wahrheit findenkönnen als selbst in einer Geschichte, in der die Tatsachen zugunsten irgendeiner einseitigen,parteiischen Auffassung bewußt entstellt werden. Die kühl-unparteiische Aufzählung unwiderleglichauthentischer Tatsachen – den einzigen Vorzug der Geschichtswerke solcher „Gelehrten“,wie wir sie als Beispiel genommen haben – liefert uns jedes gut zusammengestelltehistorische Wörterbuch. Man wird sagen: ein Wörterbuch ist keine Geschichte, denn in derGeschichte treten die Tatsachen in ihrem folgerichtigen historischen Zusammenhang auf. Das* Schema, in das etwas gezwängt wird** Gelehrsamkeit, oft auch GelehrtheitOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 197in die Darstellung der Ereignisse ab, weil alles dies nach ihrer Meinung die Wirklichkeit derTatsachen nur verdunkelt und entstellt und die heilige Unantastbarkeit der historischenWahrheit verletzt. <strong>Zur</strong> Bekräftigung dieser ihrer Meinung verweisen sie triumphierend aufjene Historiker, vor allem die deutschen, die auf Grund einer vorgefaßten Idee Geschichteschreiben und die Tatsachen aus dem Wunsch heraus, sie um jeden Preis auf das Prokrustesbett* ihrer Anschauungen zu spannen, un-[331]gewollt entstellen. Tatsächlich hat es sehrviele solcher Historiker gegeben, und was man ihnen als Mangel anrechnet, ist tatsächlichkein Vorzug. Aber es fragt sich nun: kann ein Mann, dem jede wie auch immer geartete eigeneAuffassung von den historischen Tatsachen fehlt, diese Tatsachen richtig darlegen? – Erkann es, wenn unter der historischen Wahrheit von Tatsachen lediglich die geographischeund die chronologische Wahrheit verstanden werden soll. In diesem Falle ließen sich die vortrefflichenHistoriker beinahe nach Tausenden zählen – denn was ist weiter dabei, mit einigemFleiß und vulgärer empirischer Gelahrtheit eine Unzahl von Chroniken und anderer keinemZweifel unterliegender historischer Quellen nicht nur zu studieren, sondern sogar auswendigzu lernen. Es hat ja doch auch sonderbare Käuze gegeben, die genug Geduld hatten,auszurechnen, wie viele Buchstaben in der Bibel stehen. Was ist weiter dabei, herauszubekommen,in welchem Staat und welchem Jahrhundert Alexander von Mazedonien geborenwurde, lebte und starb, oder wie am Schnürchen herzusagen, was er Tag für Tag tat? Ist esetwa so unmöglich schwer, jeden der alten oder der neueren Schriftsteller, der zehn Bändeoder zehn Zeilen über Alexander von Mazedonien geschrieben hat, hundertmal von A bis Zzu lesen und alle diese Schriftsteller zu vergleichen und aneinander zu verifizieren; schließlichdie Zuverlässigkeit aller, auch der kleinsten Tatsachen aus dem Leben dieses Riesen derAntike kritisch zu untersuchen? Wir wollen damit durchaus nicht sagen, daß das leicht ist unddaß eine Erudition ** dieser Art gar keinen Wert hat: nein, sie ist notwendig als eines derHilfsmittel des Historikers, aber eben nicht mehr als eins unter andern Hilfsmitteln! Wer esfertigbringt, sich einzig und allein hiermit zu beschäftigen, der hat es leicht, ein Wunder vonGelehrsamkeit zu werden und seinen Kopf in eine riesige Bibliothek zu verwandeln, bei deralle Welt sich Auskunft holt. Das ist um so leichter möglich, als hierzu sehr wenig Geist undnur sehr viel Geduld und pedantische Kleinkrämerei nötig ist. Und nehmen wir nun einmalan, daß irgendein Herr sich eine solche riesige Tatsachen-Gelehrtheit angeeignet hat und ohneStocken Auskunft geben kann, in welchem Jahr, in welchem Monat und an welchem TageAlexander von Mazedonien geboren wurde, wie er den Kopf geneigt trug, von welcher Farbeseine Augen waren, auf welcher Schulter er ein Muttermal hatte (wenn er eins hatte), undschließlich, was er in seinem 24. Lebensjahr am 7. Februar eine Stunde nach dem Mittagessentat. [332] Nehmen wir weiter an, daß dieser Herr die Philosophie nicht leiden kann undeinzig und allein von der unerschütterlichen Zuverlässigkeit der Tatsachen in Ehrfurcht vergehtund es für eine Sünde hält, bei der Darstellung großer Ereignisse der Vergangenheit seineeigene Persönlichkeit zu wahren. Kann man sich denn vorstellen, daß, wenn er sich daranmacht, Geschichte zu schreiben, dann unbedingt der wahrheitsgetreueste Bericht über dieTaten der Völker und der historischen Persönlichkeiten zustande kommt? – Nein, und tausendmalnein: In seiner Geschichte wird man bedeutend weniger historische Wahrheit findenkönnen als selbst in einer Geschichte, in der die Tatsachen zugunsten irgendeiner einseitigen,parteiischen Auffassung bewußt entstellt werden. Die kühl-unparteiische Aufzählung unwiderleglichauthentischer Tatsachen – den einzigen Vorzug der Geschichtswerke solcher „Gelehrten“,wie wir sie als Beispiel genommen haben – liefert uns jedes gut zusammengestelltehistorische Wörterbuch. Man wird sagen: ein Wörterbuch ist keine Geschichte, denn in derGeschichte treten die Tatsachen in ihrem folgerichtigen historischen Zusammenhang auf. Das* Schema, in das etwas gezwängt wird** Gelehrsamkeit, oft auch GelehrtheitOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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