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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 194Die historische Kritik, die aus der Verglei-[325]chung und der Prüfung des Materials, derAnalyse der Tatsachen u. dgl. mehr besteht, gibt dem, der sich mit ihr beschäftigt, das Rechtauf den Titel eines „Gelehrten“, aber nicht eines Historikers, obwohl ohne solche „Gelehrten“auch eine Weltgeschichte als Wissenschaft und als Kunst zugleich undenkbar ist.Unser Aufsatz ist der eigentlichen Geschichte gewidmet (der allgemeinen Weltgeschichte in demSinn, den wir diesem Wort beilegen), und wir werden uns daher auch nur mit ihr beschäftigen.Weiter oben haben wir gesagt, daß die Geschichte sowohl Wissenschaft als auch Kunst zugleichist, wissenschaftliche Abhandlung und Kunstwerk in einem. Diese Bedeutung ist der Geschichteerst seit kurzem zuteil geworden, als Folge jenes Strebens nach Vollständigkeit und Einheit derfrüher einzeln sich entwickelnden Elemente des Lebens, eines Strebens, das die neueste Zeitkennzeichnet und von dem wir zu Beginn des Aufsatzes gesprochen haben... Diese neue Richtungder Geschichte ist wesentlich gefördert worden durch einen genialen Mann, der nur ein einzigesund dabei schlechtes Geschichtswerk, dafür aber eine Menge ausgezeichneter Romane geschriebenhat. Walter Scott war der Schöpfer einer neuen Gattung von Poesie, die nur im neunzehntenJahrhundert entstehen konnte – des historischen Romans. In den Romanen Walter Scottsbegegneten Geschichte und Poesie einander zum erstenmal als verwandte und nicht als feindlichePrinzipien. Und das hat nichts Befremdendes, Unnatürliches an sich: Poesie ist in erster LinieLeben und dann erst Kunst; wo anders als in der Geschichte tritt das Leben so voll, so tief und sovielfältig in Erscheinung? Marius auf den Trümmern Karthagos – das ist eine nicht bloß historische,sondern auch tief poetische Tatsache; Napoleon ist eine poetische Gestalt nicht nur in derUmgebung von Toulon, in Ägypten, bei Austerlitz, bei Marengo, [326] sondern auch in Moskauund auf der Insel Elba, bei Waterloo und auf Sankt Helena und im Invalidendom in Paris ... Nurbeschränkte Geister und trockene Seelen können in der geschichtlichen Bewegung lediglich solangweilig-ernste und trocken-bedeutsame Dinge wie Politik und Kriege sehen; ein tiefer Geistund eine lebendige Seele sieht in ihr den Pulsschlag des Lebens der Welt... Man wird sagen: aufdiese Weise kann man aus der Geschichte ein Märchen machen, das zwar voller poetischer Gedankenist, aber den Tatsachen nicht gerecht wird. Durchaus nicht! Ein historisches Talent hatgerade deshalb so schwierige Bedingungen zu erfüllen, weil es ein strenges Studium der Tatsachenund des historischen Materials, kritische Analysen, kühle Unparteilichkeit mit poetischerBeseeltheit und der schöpferischen Fähigkeit vereinigen muß, die Ereignisse so im Zusammenhangzu sehen, daß aus ihnen ein lebendiges Gemälde entsteht, in dem alle Regeln der Perspektiveund des Helldunkels befolgt sind. In der Bewegung der historischen Ereignisse herrscht nebender äußerlichen Kausalität auch noch eine innere Notwendigkeit, die ihnen den tiefen innerenSinn gibt: der Ablauf der Ereignisse selbst ist nichts anderes als die Bewegung der dialektischsich ausschließlich widmen, wie z. B. eine Geschichte der Kirche, eine Geschichte des Kriegshandwerks, der Sitten,des Handels, der Industrie, des Rechts, der Politik, des Finanzsystems u. dgl. Alle diese Teilgebiete müssen[325] im besonderen und einzeln, als Tatsachen sowie kritisch und philosophisch bearbeitet, müssen in einzelnenAbhandlungen und ganzen Geschichtswerken behandelt werden. Außerdem wäre es von Nutzen, jedes einzelnewichtige Ereignis, wie z. B. die Tatarenherrschaft, das Interregnum, die Herrschaftsperioden einzelner Zaren u.dgl., gesondert zu bearbeiten. Statt dessen jedoch beschränken sich unsere „Slawophilen“ und „Patrioten“ darauf,leeres Stroh zu dreschen, indem sie solche Fragen untersuchen, wie die Entstehung des ersten russischen Staates,und sie dabei mit willkürlichen Hypothesen zu lösen suchen.*) Andere sind kühner und schreiben GeschichtenRußlands, für die das Tatsachenmaterial noch gar nicht ausgearbeitet ist; ist es verwunderlich, wenn sie statt eigentlicherGeschichtswerke zusammengestoppeltes Zeug herausgeben, das noch dazu fragmentarisch bleibt? ... –*) Belinski äußerte sich wiederholt verächtlich über die Gelehrten, die das historische Tatsachenmaterial im einzelnenstudierten, ohne zu umfassenden soziologische Verallgemeinerungen zu gelangen. Er betrachtete die Geschichtswissenschaftals „Geschichtskunst“, die vom Historiker umfassende Verallgemeinerungen und künstlerischplastische Darstellung statt pedantischen Tatsachenstudiums verlangt. Mit „Slawophile“, „Patriot“ und „historischerKritik“ meint Belinski hier vor allem M. P. Pogodin, der in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhundertsganz mit der Untersuchung der ältesten Periode der russischen Geschichte beschäftigt war. Weiter unten istN. A. Polewoi gemeint, der Autor einer unvollendet gebliebenen „Geschichte des russischen Volkes“.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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