13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 191folglich haben die fremden Sitten und Gebräuche nicht die Macht, im Russen die Blutsbande,die ihn mit der Heimat verbinden, zu zerreißen, und selbst die wenigen unter ihnen, die dasSchicksal auf fremden Boden und unter fremden Himmel verschlagen hat, auch sie verstehenes, umgeben von Wundern der Natur und der Zivilisation – davon sind wir überzeugt –‚ dieheilige Sehnsucht nach den Steppen, den Städten und Dörfern ihrer Heimat wie ihr teuerstesSeelengut zu bewahren...Was nun die Gleichgültigkeit betrifft, die die Gesellschaft früher der heimischen Literatur entgegenbrachte– so war sie unvermeidlich: die Gesellschaft las nicht Russisch, weil es nichts zulesen gab. Die zwei, drei Schriftsteller, die zwar gewiß wohl über bemerkenswertes Talent verfügten,aber in einer noch nicht voll zur Ausbildung gekommenen Sprache schrieben, waren beiweitem nicht imstande, den Anforderungen gerecht zu werden, die die Mußestunden und diegeistigen Bedürfnisse von Menschen an sie stellten, vor denen sich die unerschöpflichenSchatzkammern der reichen und reifen [320] Literatur Europas aufgetan hatten. Heute lesenalle Klassen der gebildeten und selbst der halbgebildeten Gesellschaft mehr als früher Russisch,weil die russische Literatur, mit früher verglichen, mehr Lesestoff liefert, obgleich sich dadurchdas Bedürfnis nach ausländischer Literatur bei weitem nicht verringert hat. Die oberste Gesellschaftsschichthat, da sie in Rußland die gebildetste ist, von seiten der angeblichen Verteidigerder russischen Literatur mehr als andere Vorwürfe und Klagen über sich ergehen lassen müssen,daß sie sich dieser Literatur gegenüber gleichgültig verhalte ... Sind jedoch diese Vorwürfeund Klagen berechtigt? Erstens gehörte Dershawin selbst, wenn nicht von Geburt, so doch nachseiner Stellung, zu den höchsten Gesellschaftskreisen; Fonwisin fand dank seinem Geist undseinem Talent in ihr Aufnahme; Krylow, Shukowski und Batjuschkow waren durch freundschaftlicheBande mit vielen Männern der Gesellschaft verbunden; Gribojedow, Puschkin undLermontow gehörten mehr zu ihr als zu irgendeiner anderen Gesellschaftsschicht. Zweitensbegönnerte die höhere Gesellschaft Lomonossow zu Elisabeths Zeiten; fast sie allein lasDershawin und Fonwisin zu Katharinas Zeiten; sie kannte und las Krylow, Oserow, Shukowski,Batjuschkow, Puschkin und Gribojedow zu Alexanders Zeiten; heute kennt und liestsie Lermontow und Gogol ... Und bis zum heutigen Tage zählt unsere Literatur Namen vonMännern, die von Geburt den höchsten Kreisen angehören und dort nicht allein dank ihren gesellschaftlichenBeziehungen bekannt sind. Wenn die höchste Gesellschaft eine Menge anderer„großer“ russischer Schriftsteller nicht kennt und nichts von ihnen gehört hat, so deshalb, weiles ihrer sehr viele sind und weil es bei uns in Rußland gar so leicht ist, für ein einziges Gedichtchen,ein einziges Novellchen, ein einziges Zeitungsartikelchen ein berühmter Schriftsteller zuwerden: wer sollte sie wohl alle lesen und im Gedächtnis behalten? ... In stiller Gleichgültigkeitoffenbart sich manchmal ein tieferes Verständnis als in der vorschnellen, aber kindlichen Fähigkeit,sich schnell zu begeistern, Genie überall da zu sehen, wo sich kaum auch nur gewöhnlicheBegabung zeigt, für wichtig zu halten, was eigentlich nichtig ist, und mit Reichtümern zuprahlen, die schnell verderben und in dumpfigen Lagerräumen verschimmeln. Es gibt in derrussischen Literatur zweifellos Dinge, die selbst für Ausländer der Aufmerksamkeit wert sindund folglich unsere ganze Liebe, unsere ganze Achtung verdienen; aber daraus folgt noch nicht,daß wir das Recht hätten, die zarten hellgrünen [321] Reiser unserer jungen Literatur mit dengewaltigen, riesengroßen Bäumen der europäischen Literatur zu vergleichen. Schon der bloßeGedanke, wir hätten auch am Eigenen genug – ein Gedanke, den mit so elterlicher ZärtlichkeitLeute hegen und pflegen, die sich selbst den bescheidenen Titel „Patrioten“ zulegen –‚ alleinschon dieser Gedanke zeigt, wie sehr sowohl unsere Bildung als auch unsere Literatur in denKinderschuhen stecken. Die französische, die deutsche und die englische Literatur geben einanderan Reichtum nichts nach – und dabei wird jedes neue, aus irgendeinem Grunde nur einigermaßenbemerkenswerte Werk, das in einer von ihnen erscheint, sofort in die Sprache deranderen übersetzt. Dank diesem brüderlichen Austausch der Schätze des nationalen Geisteswird der Reichtum jeder dieser Literaturen nur größer.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!