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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 190auch in Deutschland Franzose, ja, ganz im Gegenteil, auch wenn seine Sympathie ganz demfremden Lande gehört und er sich sozusagen als dessen Bürger empfindet, hört keiner vonihnen auf, ein Sohn seines Landes zu sein, und bewahrt die Mentalität seiner Nation. Hierverdient erwähnt zu werden, daß die Gegner des Europäismus bei uns ihren Landsleuten denleidenschaftlichen Hang für weite Reisen sowie die Leichtigkeit und die Bereitwilligkeit zumVorwurf machen, mit der sie westliche Ge-[318]bräuche (d. h. Gebräuche aufgeklärter, gebildeterMenschen) annehmen. Diese angeblichen Patrioten treiben ihren bildungsfeindlichenFanatismus so weit, daß sie den gebildeten Teil der russischen Gesellschaft beinahe als Renegaten,als Mißgeburten betrachten, die nichts Russisches mehr an sich haben, und wissennichts Besseres zu tun, als ihnen den abstoßenden, schmutzigen Pöbel als nachahmenswertesMusterbeispiel für unverfälschten russischen Nationalgeist hinzustellen. „Seht nur“, rufen sieaus: „der Franzose, der Engländer, der Deutsche bleibt, wo und wie lange auch immer er außerhalbseines Vaterlandes leben möge, stets Franzose, Engländer und Deutscher; unsereLandsleute dagegen sind in Frankreich Franzosen, in England – Engländer, in Deutschland –Deutsche; bei uns zu Hause aber sind sie all das zusammen und deshalb weder das eine nochda andere.“ Gewiß enthält eine derartige Beschuldigung ein Körnchen Wahrheit, aber mit dervollen Wahrheit hat sie so wenig zu tun wie das Licht mit dem Schatten und ist, im ganzengenommen, eine höchst törichte Beschuldigung. Nachdem Rußland sich einmal durch dieReform Peters des Großen für immer von seiner Vergangenheit losgelöst hatte, konnte esdoch nicht in etwas mehr als hundert Jahren auf einen Schlag zum Mannesalter heranreifen,ein selbständiges Eigenleben beginnen und welthistorische Bedeutung erlangen. Statt dasUnmögliche herbeizuwünschen, sollte man sich lieber über die gigantischen Erfolge im Bereichder Zivilisation freuen, die Rußland auch ohnehin in so kurzer Zeit erzielt hat. Es istgeradezu lächerlich, daß dieser Vorwurf der Bereitschaft zur Nachahmung alles Ausländischennun schon seit hundertfünfzig und einigen Jahren in verschiedenen Formen wiederholtwird. Anfangs wandte er sich gegen die Gallomanie in den Sitten und Gebräuchen und in derLiteratur und tat sowohl die französische Sprache als auch jene Russen in den Bann, die mehrFranzösisch als in ihrer russischen Muttersprache sprachen und lasen. Gegen Karamsin bildetesich sogar eine ganze literarische Partei, die dem berühmten Umbildner der russischenSprache vorwarf, er habe sie mit Gallizismen verseucht, obschon die an Gallizismen reicheSprache Karamsins eine tausendmal natürlichere und lebendigere russische Sprache war alsdie langen lateinisch-deutschen Perioden der Buchsprache eines Lomonossow. Aber die Zeithat zum Vorschein gebracht, wie ganz und gar borniert und nichtig diese angeblich patriotischenAusfälle gegen eine Erscheinung waren, die Rußland nur zur Ehre [319] gereichte.Wenn die gebildete russische Gesellschaft nicht Russisch sprach und las, so hatte das seinenGrund: damals gab es nur eine Sprache der Bücher und eine Sprache des einfachen Volkes,aber keine russische Umgangssprache; infolgedessen besaß die gebildete Gesellschaft keineSprache, in der sie sprechen konnte, obgleich sie gern Russisch gesprochen hätte. Wenn sichauch heute in Rußland noch keine eigentliche öffentliche und Umgangssprache ausgebildethat, so existiert sie doch bereits als halbverarbeitetes Material, so daß die (seit kurzem bestehende)gebildete Mittelschicht der Gesellschaft bereits in ihr redet und auch die (seit langembestehende) höhere Gesellschaft in ihr zu reden beginnt. Daß die Kenntnis der französischenSprache echtem Patriotismus durchaus nicht widersprach und ihm keinen Abbruch tat – dieseWahrheit wird am besten durch den Großen Krieg von 1812 bis 1814 bewiesen: es ist alsTatsache bekannt, daß es nicht nur in der russischen Garde, sondern auch in der Armee vielegebildete Offiziere gab, die Französisch sprachen – das hat sie jedoch nicht daran gehindert,ihr Blut zu vergießen und heldenhaft für ihr Vaterland zu sterben, dessen Sprache sie geringerachteten als die Sprache ihrer mutigen Gegner. Nebenbei sei hier auch noch bemerkt, daßselbst heute, ungeachtet des leidenschaftlichen Hangs der Russen für weite Fahrten und Auslandsreisen,ein Russe, der für immer im Ausland bleibt, eine äußerst seltene Erscheinung ist:OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 191folglich haben die fremden Sitten und Gebräuche nicht die Macht, im Russen die Blutsbande,die ihn mit der Heimat verbinden, zu zerreißen, und selbst die wenigen unter ihnen, die dasSchicksal auf fremden Boden und unter fremden Himmel verschlagen hat, auch sie verstehenes, umgeben von Wundern der Natur und der Zivilisation – davon sind wir überzeugt –‚ dieheilige Sehnsucht nach den Steppen, den Städten und Dörfern ihrer Heimat wie ihr teuerstesSeelengut zu bewahren...Was nun die Gleichgültigkeit betrifft, die die Gesellschaft früher der heimischen Literatur entgegenbrachte– so war sie unvermeidlich: die Gesellschaft las nicht Russisch, weil es nichts zulesen gab. Die zwei, drei Schriftsteller, die zwar gewiß wohl über bemerkenswertes Talent verfügten,aber in einer noch nicht voll zur Ausbildung gekommenen Sprache schrieben, waren beiweitem nicht imstande, den Anforderungen gerecht zu werden, die die Mußestunden und diegeistigen Bedürfnisse von Menschen an sie stellten, vor denen sich die unerschöpflichenSchatzkammern der reichen und reifen [320] Literatur Europas aufgetan hatten. Heute lesenalle Klassen der gebildeten und selbst der halbgebildeten Gesellschaft mehr als früher Russisch,weil die russische Literatur, mit früher verglichen, mehr Lesestoff liefert, obgleich sich dadurchdas Bedürfnis nach ausländischer Literatur bei weitem nicht verringert hat. Die oberste Gesellschaftsschichthat, da sie in Rußland die gebildetste ist, von seiten der angeblichen Verteidigerder russischen Literatur mehr als andere Vorwürfe und Klagen über sich ergehen lassen müssen,daß sie sich dieser Literatur gegenüber gleichgültig verhalte ... Sind jedoch diese Vorwürfeund Klagen berechtigt? Erstens gehörte Dershawin selbst, wenn nicht von Geburt, so doch nachseiner Stellung, zu den höchsten Gesellschaftskreisen; Fonwisin fand dank seinem Geist undseinem Talent in ihr Aufnahme; Krylow, Shukowski und Batjuschkow waren durch freundschaftlicheBande mit vielen Männern der Gesellschaft verbunden; Gribojedow, Puschkin undLermontow gehörten mehr zu ihr als zu irgendeiner anderen Gesellschaftsschicht. Zweitensbegönnerte die höhere Gesellschaft Lomonossow zu Elisabeths Zeiten; fast sie allein lasDershawin und Fonwisin zu Katharinas Zeiten; sie kannte und las Krylow, Oserow, Shukowski,Batjuschkow, Puschkin und Gribojedow zu Alexanders Zeiten; heute kennt und liestsie Lermontow und Gogol ... Und bis zum heutigen Tage zählt unsere Literatur Namen vonMännern, die von Geburt den höchsten Kreisen angehören und dort nicht allein dank ihren gesellschaftlichenBeziehungen bekannt sind. Wenn die höchste Gesellschaft eine Menge anderer„großer“ russischer Schriftsteller nicht kennt und nichts von ihnen gehört hat, so deshalb, weiles ihrer sehr viele sind und weil es bei uns in Rußland gar so leicht ist, für ein einziges Gedichtchen,ein einziges Novellchen, ein einziges Zeitungsartikelchen ein berühmter Schriftsteller zuwerden: wer sollte sie wohl alle lesen und im Gedächtnis behalten? ... In stiller Gleichgültigkeitoffenbart sich manchmal ein tieferes Verständnis als in der vorschnellen, aber kindlichen Fähigkeit,sich schnell zu begeistern, Genie überall da zu sehen, wo sich kaum auch nur gewöhnlicheBegabung zeigt, für wichtig zu halten, was eigentlich nichtig ist, und mit Reichtümern zuprahlen, die schnell verderben und in dumpfigen Lagerräumen verschimmeln. Es gibt in derrussischen Literatur zweifellos Dinge, die selbst für Ausländer der Aufmerksamkeit wert sindund folglich unsere ganze Liebe, unsere ganze Achtung verdienen; aber daraus folgt noch nicht,daß wir das Recht hätten, die zarten hellgrünen [321] Reiser unserer jungen Literatur mit dengewaltigen, riesengroßen Bäumen der europäischen Literatur zu vergleichen. Schon der bloßeGedanke, wir hätten auch am Eigenen genug – ein Gedanke, den mit so elterlicher ZärtlichkeitLeute hegen und pflegen, die sich selbst den bescheidenen Titel „Patrioten“ zulegen –‚ alleinschon dieser Gedanke zeigt, wie sehr sowohl unsere Bildung als auch unsere Literatur in denKinderschuhen stecken. Die französische, die deutsche und die englische Literatur geben einanderan Reichtum nichts nach – und dabei wird jedes neue, aus irgendeinem Grunde nur einigermaßenbemerkenswerte Werk, das in einer von ihnen erscheint, sofort in die Sprache deranderen übersetzt. Dank diesem brüderlichen Austausch der Schätze des nationalen Geisteswird der Reichtum jeder dieser Literaturen nur größer.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 190auch in Deutschland Franzose, ja, ganz im Gegenteil, auch wenn seine Sympathie ganz demfremden Lande gehört und er sich sozusagen als dessen Bürger empfindet, hört keiner vonihnen auf, ein Sohn seines Landes zu sein, und bewahrt die Mentalität seiner Nation. Hierverdient erwähnt zu werden, daß die Gegner des Europäismus bei uns ihren Landsleuten denleidenschaftlichen Hang für weite Reisen sowie die Leichtigkeit und die Bereitwilligkeit zumVorwurf machen, mit der sie westliche Ge-[318]bräuche (d. h. Gebräuche aufgeklärter, gebildeterMenschen) annehmen. Diese angeblichen Patrioten treiben ihren bildungsfeindlichenFanatismus so weit, daß sie den gebildeten Teil der russischen Gesellschaft beinahe als Renegaten,als Mißgeburten betrachten, die nichts Russisches mehr an sich haben, und wissennichts Besseres zu tun, als ihnen den abstoßenden, schmutzigen Pöbel als nachahmenswertesMusterbeispiel für unverfälschten russischen Nationalgeist hinzustellen. „Seht nur“, rufen sieaus: „der Franzose, der Engländer, der Deutsche bleibt, wo und wie lange auch immer er außerhalbseines Vaterlandes leben möge, stets Franzose, Engländer und Deutscher; unsereLandsleute dagegen sind in Frankreich Franzosen, in England – Engländer, in Deutschland –Deutsche; bei uns zu Hause aber sind sie all das zusammen und deshalb weder das eine nochda andere.“ Gewiß enthält eine derartige Beschuldigung ein Körnchen Wahrheit, aber mit dervollen Wahrheit hat sie so wenig zu tun wie das Licht mit dem Schatten und ist, im ganzengenommen, eine höchst törichte Beschuldigung. Nachdem Rußland sich einmal durch dieReform Peters des Großen für immer von seiner Vergangenheit losgelöst hatte, konnte esdoch nicht in etwas mehr als hundert Jahren auf einen Schlag zum Mannesalter heranreifen,ein selbständiges Eigenleben beginnen und welthistorische Bedeutung erlangen. Statt dasUnmögliche herbeizuwünschen, sollte man sich lieber über die gigantischen Erfolge im Bereichder Zivilisation freuen, die Rußland auch ohnehin in so kurzer Zeit erzielt hat. Es istgeradezu lächerlich, daß dieser Vorwurf der Bereitschaft zur Nachahmung alles Ausländischennun schon seit hundertfünfzig und einigen Jahren in verschiedenen Formen wiederholtwird. Anfangs wandte er sich gegen die Gallomanie in den Sitten und Gebräuchen und in derLiteratur und tat sowohl die französische Sprache als auch jene Russen in den Bann, die mehrFranzösisch als in ihrer russischen Muttersprache sprachen und lasen. Gegen Karamsin bildetesich sogar eine ganze literarische Partei, die dem berühmten Umbildner der russischenSprache vorwarf, er habe sie mit Gallizismen verseucht, obschon die an Gallizismen reicheSprache Karamsins eine tausendmal natürlichere und lebendigere russische Sprache war alsdie langen lateinisch-deutschen Perioden der Buchsprache eines Lomonossow. Aber die Zeithat zum Vorschein gebracht, wie ganz und gar borniert und nichtig diese angeblich patriotischenAusfälle gegen eine Erscheinung waren, die Rußland nur zur Ehre [319] gereichte.Wenn die gebildete russische Gesellschaft nicht Russisch sprach und las, so hatte das seinenGrund: damals gab es nur eine Sprache der Bücher und eine Sprache des einfachen Volkes,aber keine russische Umgangssprache; infolgedessen besaß die gebildete Gesellschaft keineSprache, in der sie sprechen konnte, obgleich sie gern Russisch gesprochen hätte. Wenn sichauch heute in Rußland noch keine eigentliche öffentliche und Umgangssprache ausgebildethat, so existiert sie doch bereits als halbverarbeitetes Material, so daß die (seit kurzem bestehende)gebildete Mittelschicht der Gesellschaft bereits in ihr redet und auch die (seit langembestehende) höhere Gesellschaft in ihr zu reden beginnt. Daß die Kenntnis der französischenSprache echtem Patriotismus durchaus nicht widersprach und ihm keinen Abbruch tat – dieseWahrheit wird am besten durch den Großen Krieg von 1812 bis 1814 bewiesen: es ist alsTatsache bekannt, daß es nicht nur in der russischen Garde, sondern auch in der Armee vielegebildete Offiziere gab, die Französisch sprachen – das hat sie jedoch nicht daran gehindert,ihr Blut zu vergießen und heldenhaft für ihr Vaterland zu sterben, dessen Sprache sie geringerachteten als die Sprache ihrer mutigen Gegner. Nebenbei sei hier auch noch bemerkt, daßselbst heute, ungeachtet des leidenschaftlichen Hangs der Russen für weite Fahrten und Auslandsreisen,ein Russe, der für immer im Ausland bleibt, eine äußerst seltene Erscheinung ist:OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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