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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 186die Gesellschaft wandelte sie um... Tatjana erinnert uns unwillkürlich an die Vera aus Lermontows„Held unserer Zeit“, an die Frau, deren Schwäche das Gefühl ist, die ihm immernachgibt und die schön und erhaben ist in dieser [309] Schwäche. Gewiß handelt eine Frauunsittlich, wenn sie gleichzeitig zwei Männern angehört, von denen sie den einen liebt, denandern aber betrügt: das ist eine unbestreitbare Wahrheit; in Vera jedoch findet diese Sündeihre Sühne in dem Leiden am Bewußtsein ihrer unglücklichen Rolle. Und wie hätte sie auchden entscheidenden Schritt in ihren Beziehungen zu ihrem Manne tun sollen, wo sie dochsah, daß der andere, dem sie sich zum Opfer brachte, ihr nicht ganz angehörte, daß er siezwar liebte, aber dennoch sein Dasein nicht mit dem ihrigen verschmelzen wollte? Alsschwache Frau fühlte sie sich dem Einfluß der fatalen Macht dieses Mannes von dämonischerNatur ausgeliefert und konnte ihm keinen Widerstand leisten. Durch ihren Charakter ist Tatjanaihr von Natur aus überlegen, ganz zu schweigen von dem riesigen Unterschied in derkünstlerischen Gestaltung dieser beiden weiblichen Figuren: Tatjana ist ein Porträt in Lebensgröße,Vera nicht mehr als ein Schattenriß. Dennoch ist Vera mehr Frau... dafür aberauch mehr Ausnahmeerscheinung, während Tatjana den Typus der russischen Frau darstellt...Ekstatische Idealisten, die das Leben und die Frau an Hand der Romane Marlinskis studierten,fordern von der außergewöhnlichen Frau Geringschätzung der öffentlichen Meinung.Das ist durchaus falsch: Die Frau kann die öffentliche Meinung nicht geringschätzen, aber siekann sich über sie hinwegsetzen, bescheiden, ohne große Worte, ohne sich zu brüsten, vollbewußtder Größe ihres Opfers, der ganzen Schwere des Fluchs, den sie auf sich nimmt, indemsie sich einem anderen, höheren Gesetz unterordnet – dem Gesetz der eigenen Natur,und diese ihre Natur ist Liebe und Selbstaufopferung...So hat also Puschkin in den Gestalten Onegins, Lenskis und Tatjanas die russische Gesellschaftin einer der Phasen ihres Werdegangs, ihrer Entwicklung dargestellt, und mit welcherWahrheitstreue, wie vollendet und wie künstlerisch hat er sie dargestellt! Wir wollen nichtvon der großen Zahl von Porträts und Silhouetten reden, die in das Poem eingeschaltet sindund die das Bild der höheren und der mittleren russischen Gesellschaft vervollständigen;nicht von den ländlichen Tanzvergnügen und den hauptstädtischen Empfängen: das alles istunserem Publikum bekannt und längst schon nach Gebühr geschätzt... Wir wollen nur einsanmerken: die Persönlichkeit des Dichters, die in diesem Poem so deutlich zum Ausdruckkommt, tritt uns überall so schön und so menschlich, aber gleichzeitig auch vorwiegend artistischentgegen. Wir sehen in ihm überall einen [310] Menschen, der mit Leib und Seele denGrundsätzen ergeben ist, die das Wesen der von ihm dargestellten Klasse ausmachen; wirsehen, kurz gesagt, überall den russischen Gutsherrn... Er greift innerhalb dieser Klasse allesan, was der Menschlichkeit widerspricht; aber die Grundsätze der Klasse sind für ihn ewigeWahrheit... 10 Deshalb spricht auch selbst aus der Satire bei ihm so viel Liebe, selbst die Verneinungklingt bei ihm oft nach wohlwollender Billigung... Man erinnere sich an die Beschreibungder Familie Larin im zweiten Kapitel, und vor allem an das Porträt Larins selbst...Das ist der Grund dafür, daß im „Onegin“ heute vieles veraltet ist. Aber ohne diesen Zug wäreaus dem „Onegin“ vielleicht niemals ein so vollendetes, ins einzelne gehendes Poem desrussischen Lebens geworden. Kein so konkretes Tatsachenmaterial für die Überwindung derGedankenwelt, die sich in eben dieser Gesellschaft selbst so schnell weiterentwickelt hat...„Onegin“ ist im Laufe mehrerer Jahre niedergeschrieben worden, und der Dichter selbst istdeshalb mit ihm gewachsen, und jedes neue Kapitel ist interessanter und reifer geworden. Die10 In dieser Betrachtung Puschkins vom Klassenstandpunkt aus sah G. W. Plechanow „den Keim einer wissenschaftlichenKritik, die sich auf die materialistische Geschichtsauffassung stützt“. „Gegen Ende seines Lebens“,schrieb er, „trennte sich Belinski völlig vom Idealismus Hegels und begann sich dem Materialismus Feuerbachszuzuneigen. Nach der Lehre des Materialismus aber entwickelt das Bewußtsein sich nicht aus sich selbst: seineEntwicklung ist bedingt durch das Sein.“OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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