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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 184Sie kannten es ja längst zu gut,Noch heute, Gott! erstarrt mein Blut,Denk’ ich des Worts aus Ihrem MundeUnd Ihres kalten Blicks! ...Wirklich stand Onegin Tatjana gegenüber dafür in Schuld, daß er sie damals, als sie jüngerund besser war und ihn liebte, nicht wiedergeliebt hatte! Was braucht denn Liebe anderes alsJugend, Schönheit und Gegenliebe! Diese Begriffe waren es, was sie den schlechten, sentimentalenRomanen entnommen hatte! Das stumme Landmädchen mit seiner kindlichenSchwärmerei – und die Weltdame, die Leben und Leiden kennengelernt und Worte gefundenhatte, um ihre Gefühle und ihre Gedanken auszudrücken: was für ein Unterschied! Und dennochwar Tatjana der Meinung, daß sie damals mehr dazu angetan gewesen sei, Liebe einzuflößenals jetzt, weil sie damals jünger und besser war! ... Wie deutlich tritt aus dieser Auffassungdie russische Frau hervor! Und dann der Vorwurf, daß ihr damals von Onegin nurkalte Ablehnung zuteil geworden sei. „Sie kannten scheuer Mädchen Liebessehnen ja längstzu gut!“ Die Liebe eines unentwickelten sittlichen Wesens nicht zu schätzen wissen – ist dasnicht wirklich ein Verbrechen? ... Aber auf diesen Vorwurf folgt sogleich auch eine Rechtfertigung:„... AlleinDas soll für Sie kein Vorwurf sein:Sie zeigten mir in schwerer StundeWahrhaftigkeit und edlen Sinn –Wofür ich heut noch dankbar bin...Der Grundgedanke der Vorwürfe Tatjanas beruht auf der Überzeugung, Onegin habe sie damalsnur deshalb nicht geliebt, weil ihm der Zauber der Verführung fehlte; jetzt aber ließe ihndie Gier nach einem Triumph, der von sich reden machen würde, ihr zu Füßen fallen... Durchalles dies blickt unverkennbar die ängstliche Sorge um ihre Tugend hindurch...„Damals, nicht wahr? in dürft’ger Lage,Noch fern von Prunk und Üppigkeit,Gefiel ich Ihnen nicht... Ich frage:Weshalb verfolgen Sie mich heut,Bedrängen mich mit Gunstbeweisen? [307]Doch nur, weil zu den höchsten KreisenMir heut die Pforten offenstehn,Sie mich geehrt, beneidet sehn,Mein Gatte Narben trägt vom Kriege,Wofür der Hof uns höher stellt –Doch nur, weil heut mich alle Welt,Sobald ich einen Makel trüge,Gleich lästern, aber Sie, den Mann,Noch im Triumphe neiden kann!Ich weine ... Wenn Ihr Herz in TreueNoch Ihrer Tanja Bild bewahrt,So hören Sie: die Scham, die Reue,Ja, Ihre kränkend rauhe Art,Dies alles wollt’ ich lieber tragenAls jetzt die Leidenschaft, die Klagen,Die Tränen, diese Briefe hier.Denn damals haben Sie mit mir,Dem Kind, doch Mitgefühl besessen,An meine Unschuld nicht gerührt...Und heut? Was hat Sie hergeführt?Wie klein gedacht, wie ehrvergessen!Gibt denn Ihr Herz, Ihr hoher SinnSich solchen niedren Trieben hin?“OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 185In diesen Verszeilen ist laut und vernehmlich ein banges Beben um den guten Namen in dergroßen Welt zu hören, während die folgenden dann den unwiderleglichen Beweis für die tiefsteVerachtung der großen Welt erbringen... Was für ein Widerspruch! Und das allertraurigstehieran ist, daß das eine wie das andere sich wahrhaftig in Tatjana vorfindet...„Und mir, Onegin, was bedeutenMir Glanz und Reichtum, Prunk und Schein,Die Gunst des Hofs, die Festlichkeiten,Der Fürstenrang, das Vornehmsein,Dies ganze Maskeradenleben?Wie wär’ ich froh, es hinzugebenFür meine liebe Bücherschar,Den Garten, der mein Obdach war,Das Elternhaus, so lang gemieden,Für jenes stille Heimattal,Wo ich Sie sah zum erstenmal,Ja für des Kirchhofs ernsten Frieden,Wo unterm Kreuz in Gottes HutDie alte treue Amme ruht...“[308] Wir wiederholen: Diese Worte sind ebenso ungekünstelt und ehrlich wie die ihnen unmittelbarvorausgehenden. Tatjana liebt die große Welt nicht und würde sich glücklich schätzen,wenn sie sie für immer verlassen und gegen das Landleben eintauschen könnte; abersolange sie in der großen Welt lebt, wird deren Meinung stets ihr Idol sein und die Angst vorihrem Urteil stets ihre Tugend bestimmen...„Und ach, wir konnten glücklich werden,Das Glück war uns so nah gebracht!Mir fiel ein andres Los auf Erden.Ich tat auch selbst wohl unbedacht,Doch Mutters Tränen, Mutters Bitten –Da blieb, wie schwer sie auch gelitten,Der armen Tanja keine Wahl...Ich ward vermählt. Zum letztenmal,Eugen: Sie müssen mir entsagen;Ich weiß auch, daß Ihr Edelmut,Ihr Stolz von selbst das Rechte tut.Ich liebe Sie – heut darf ich’s klagen –Doch hat ein andrer mich gefreit:Ihm bleib’ ich treu in Ewigkeit!“Diese letzten Verszeilen sind bewundernswert – sie sind wahrhaft die Krönung des Werks.Diese Antwort könnte als Beispiel für das klassische „Erhabene“ (sublime) stehen, neben derAntwort Medeas: moi! [Ich] und dem: qu’il mourût [er starb] des Horace. Das ist wahrhafterStolz weiblicher Tugend! Doch mich hat ein andrer gefreit– eben dies: er hat mich gefreit,nicht: ich habe ihn zum Mann genommen! Treu in Ewigkeit – wem und worin? Einer Beziehungtreu, die nichts anderes ist als eine Profanation weiblicher Gefühle und weiblicher Sauberkeit,weil gewisse Beziehungen, wenn sie nicht durch Liebe geheiligt werden, in höchstemGrade unsittlich sind... 9 Bei uns jedoch geht das alles so irgendwie in einem hin: Poesie – undLeben, Liebe – und Ehe aus Berechnung, seelenvolles Leben – und strenge Einhaltung äußerlicherVerpflichtungen, die innerlich jeden Augenblick durchbrochen werden... Das Lebender Frau konzentriert sich vorwiegend auf das Leben des Herzens: Lieben bedeutet für sieleben, und opfern bedeutet lieben. Für diese Rolle hatte die Natur Tatjana geschaffen; aber9 Derartige Gedanken über Frauen, Liebe und Ehe äußerte Belinski in seinen Aufsätzen und Briefen seit demJahre 1841, als er sich für die Ideen der utopistischen Sozialisten zu begeistern begonnen hatte. Ebenso wie W.P. Botkin verurteilte Belinski Tatjana deswegen, weil sie das hohe Gefühl der Liebe dadurch profaniert habe,daß sie es „den Gesetzen der gemeinen, geistlosen und von ihr verachteten Menge“ zum Opfer brachte.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 184Sie kannten es ja längst zu gut,Noch heute, Gott! erstarrt mein Blut,Denk’ ich des Worts aus Ihrem MundeUnd Ihres kalten Blicks! ...Wirklich stand Onegin Tatjana gegenüber dafür in Schuld, daß er sie damals, als sie jüngerund besser war und ihn liebte, nicht wiedergeliebt hatte! Was braucht denn Liebe anderes alsJugend, Schönheit und Gegenliebe! Diese Begriffe waren es, was sie den schlechten, sentimentalenRomanen entnommen hatte! Das stumme Landmädchen mit seiner kindlichenSchwärmerei – und die Weltdame, die Leben und Leiden kennengelernt und Worte gefundenhatte, um ihre Gefühle und ihre Gedanken auszudrücken: was für ein Unterschied! Und dennochwar Tatjana der Meinung, daß sie damals mehr dazu angetan gewesen sei, Liebe einzuflößenals jetzt, weil sie damals jünger und besser war! ... Wie deutlich tritt aus dieser Auffassungdie russische Frau hervor! Und dann der Vorwurf, daß ihr damals von Onegin nurkalte Ablehnung zuteil geworden sei. „Sie kannten scheuer Mädchen Liebessehnen ja längstzu gut!“ Die Liebe eines unentwickelten sittlichen Wesens nicht zu schätzen wissen – ist dasnicht wirklich ein Verbrechen? ... Aber auf diesen Vorwurf folgt sogleich auch eine Rechtfertigung:„... AlleinDas soll für Sie kein Vorwurf sein:Sie zeigten mir in schwerer StundeWahrhaftigkeit und edlen Sinn –Wofür ich heut noch dankbar bin...Der Grundgedanke der Vorwürfe Tatjanas beruht auf der Überzeugung, Onegin habe sie damalsnur deshalb nicht geliebt, weil ihm der Zauber der Verführung fehlte; jetzt aber ließe ihndie Gier nach einem Triumph, der von sich reden machen würde, ihr zu Füßen fallen... Durchalles dies blickt unverkennbar die ängstliche Sorge um ihre Tugend hindurch...„Damals, nicht wahr? in dürft’ger Lage,Noch fern von Prunk und Üppigkeit,Gefiel ich Ihnen nicht... Ich frage:Weshalb verfolgen Sie mich heut,Bedrängen mich mit Gunstbeweisen? [307]Doch nur, weil zu den höchsten KreisenMir heut die Pforten offenstehn,Sie mich geehrt, beneidet sehn,Mein Gatte Narben trägt vom Kriege,Wofür der Hof uns höher stellt –Doch nur, weil heut mich alle Welt,Sobald ich einen Makel trüge,Gleich lästern, aber Sie, den Mann,Noch im Triumphe neiden kann!Ich weine ... Wenn Ihr Herz in TreueNoch Ihrer Tanja Bild bewahrt,So hören Sie: die Scham, die Reue,Ja, Ihre kränkend rauhe Art,Dies alles wollt’ ich lieber tragenAls jetzt die Leidenschaft, die Klagen,Die Tränen, diese Briefe hier.Denn damals haben Sie mit mir,Dem Kind, doch Mitgefühl besessen,An meine Unschuld nicht gerührt...Und heut? Was hat Sie hergeführt?Wie klein gedacht, wie ehrvergessen!Gibt denn Ihr Herz, Ihr hoher SinnSich solchen niedren Trieben hin?“OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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