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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 18den, denn ich erwähne sie nur beiläufig, apropos, als einen Gegenstand, der nicht unmittelbarzum Thema meines Rundblicks gehört. Außerdem bin ich auch nicht hinreichend vertraut mitden Dokumenten unserer geistlichen Redekunst, die gewiß auch gelungene Versuche aufzuweisenhat.Desgleichen will ich mich nicht über Kantemir auslassen; ich will nur sagen, daß ich seinepoetische Berufung stark bezweifle. Mir scheint, daß seine vielgerühmten Satiren eher dieFrucht einer verstandesmäßigen, kühlen Beobachtungsgabe als eines heißen, lebendigen Gefühlsgewesen sind. Und ist es verwunderlich, daß er mit [31] Satiren, diesen Früchten desHerbstes, begann, und nicht mit Oden, wie sie der Frühling hervorbringt? Er war Ausländer,folglich konnte er sich nicht in das Volk einfühlen und seine Hoffnungen und Befürchtungenteilen: er hatte gut lachen. Daß er kein Dichter war, wird schon dadurch bewiesen, daß ervergessen ist. Altertümlicher Stil? Unsinn! ... 21 Die Engländer selber lesen ihren Shakespearemit Kommentaren.Tredjakowski besaß weder Geist noch Gefühl, noch Talent. Dieser Mann war für den Pflugoder die Axt geboren; aber das Schicksal zwängte ihn wie zum Hohn in einen Frack: soll mansich da wundern, wenn er so komisch und ungestalt wirkt? 22Ja, die ersten Versuche waren allzu schwach und unbeholfen. Aber da leuchtete plötzlich, wiesich einer unserer Landsleute vortrefflich ausgedrückt hat, an den Gestaden des Eismeeres,dem funkelnden Nordlicht gleich, Lomonossow auf. Das war eine Erscheinung von blendenderSchönheit, ein Beweis dafür, daß der Mensch in jeder Verfassung und jedem KlimaMensch ist, daß das Genie alle Hindernisse, die ein feindliches Geschick ihm in den Wegwirft, siegreich zu überwinden vermag und daß schließlich der Russe in altem Großen undSchönen nicht minder befähigt ist als jeder Europäer. Aber gleichzeitig, möchte ich sagen,bestätigte diese tröstliche Erscheinung zu unserem Unglück auch die unumstößliche Wahrheit,daß der Schüler niemals über den Lehrer hinauswächst, wenn er in ihm das Vorbild stattden Rivalen sieht, daß das Genie eines Volkes, wenn es nicht auf seine eigene Art und Weiseund selbständig auftritt, stets zaghaft und gehemmt sein wird und seine Werke in diesem Falleimmer künstlichen Blumen gleichen werden: farbig, schön und üppig, doch ohne Duft,ohne Würze und Leben. Mit Lomonossow beginnt unsere Literatur; er war ihr Vater und ihrBildner; er war ihr Peter der Große. Muß man da noch hinzufügen, daß er ein großer, mit demStempel des Genies ausgezeichneter Mann war? Das alles ist unbestritten. Muß man da nochnachweisen, daß er unserer Sprache und unserer Literatur, wenn auch nur für eine Zeit, dieRichtung gewiesen hat? Das ist noch weniger bestritten. Aber was für eine Richtung? Das isteine andere Frage. Über diesen Gegenstand werde ich nichts Neues sagen und vielleicht nurmehr oder weniger bekannte Gedanken wiederholen.Ich halte es jedoch für nötig, eine Bemerkung vorauszuschicken. Wie ich schon sagte,herrscht in unserer Literatur auch heute noch [32] eine erbärmliche kindische Ehrfurcht vorden Autoren. Auch in der Literatur haben wir den größten Respekt vor der Rangliste undfürchten uns, über hohe Persönlichkeiten laut die Wahrheit zu sagen. Wenn wir über einenberühmten Schriftsteller sprechen, so begnügen wir uns stets mit nichtssagenden Interjektionenund phrasenhaften Lobsprüchen; die schroffe Wahrheit über ihn zu sagen, gilt bei uns alsBlasphemie. Und es wäre noch gut, täten wir es aus Überzeugung. Nein, wir tun es einfach21 Belinskis Ansichten über Kantemir haben sich später geändert. So schrieb er in seinem ersten Aufsatz überPuschkin aus dem Jahre 1843, daß sich die Satire, nachdem Kantemir sie als erster eingeführt hatte, sozusagenin der russischen Literatur eingebürgert und einen wohltätigen Einfluß auf die Sitten der russischen Gesellschaftausgeübt habe.22 Diese schroffe Ablehnung Tredjakowskis war in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts gang undgäbe.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 19aus törichten und schädlichen Anstandsbedenken oder aus Furcht, als Emporkömmling, alsRomantiker betrachtet zu werden. Man sehe sich einmal an, wie es die Ausländer in solchenFällen halten: dort wird jeder Schriftsteller nach seinen wirklichen Verdiensten gewertet.Dort begnügt man sich nicht mit der Behauptung, daß die Schauspiele des Herrn X. Y. vieleherrliche Stellen aufweisen, wenn sie auch einige holprige Verse und ein paar Schnitzer enthalten,daß die Oden des Herrn X. Y. vorzüglich, seine Elegien aber schwach sind. Nein, mannimmt dort den ganzen Wirkungskreis dieses oder jenes Schriftstellers, bestimmt den Gradseines Einflusses auf die Zeitgenossen und die späteren Generationen, analysiert den Geistseines ganzen Werkes und nicht partielle Schönheiten oder Mängel, berücksichtigt seine Lebensverhältnisse,um festzustellen, ob er mehr hätte leisten können, als er geleistet hat, undum zu ergründen, warum er so und nicht anders verfuhr; und erst dann, nach allen diesen Erwägungen,entscheidet man, welcher Platz in der Literatur ihm gebührt und welcher Ruhmihm zukommt. Den Lesern des „Teleskop“ sind gewiß viele solche kritische Lebensbeschreibungenberühmter Schriftsteller bekannt. Und wo finden wir sie bei uns? O weh! ... Wie ofthörten wir z. B., daß Lomonossows „Abend- und Morgengedanken über Gottes Größe“ herrlich,daß die Strophen seiner Oden klangvoll und erhaben, daß die Perioden seiner Prosareich, rund und farbig seien; aber ist das Maß seiner Verdienste richtig abgewogen, sind nebenseinen lichten Seiten auch die dunkeln Stellen gezeigt worden? Nicht doch – wie kannman nur! Das wäre sündhaft, dreist und undankbar! ... Aber wo bleibt dann die Kritik, die denGeschmack bildet, wo die Wahrheit, die höher als alle Autoritäten der Welt stehen sollte? ...Große Kenntnisse und Erfahrungen, viel Mähe und Zeit sind erforderlich, um einen Menschen,wie Lomonossow es war, nach Gebühr zu würdigen. Mangel an Zeit und an Raum,vielleicht auch an [33] Können, verbieten es mir, mich in allzu eingehende Untersuchungeneinzulassen; ich will mich auf allgemeine Betrachtungen beschränken. Lomonossow ist derPeter unserer Literatur: das ist, scheint mir, die richtigste Auffassung von ihm. In der Tat, läßtsich nicht eine auffallende Ähnlichkeit im Wirken dieser beiden großen Männer ebenso wie inden Folgen dieses Wirkens feststellen? An der Küste des Nördlichen Eismeers, im Reich desWinters und des Todes, wird einem armen Fischer ein Sohn geboren. Ein unbegreiflicher Dämonquält das Kind, läßt ihm weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe, flüstert ihm wundersameReden ein, die sein Herz erbeben und sein Blut heißer pulsen lassen. Worauf immer der Blickdieses Kindes fällt, es will wissen: woher, warum und wie; endlose Fragen quälen und bedrückensein junges Gemüt – und nirgends eine Antwort! Der Knabe lernt notdürftig lesen undschreiben, die heimlichen Einflüsterungen seines zudringlichen Dämons erklingen in seinerSeele wie die süßen Klänge des Zauberglöckchens und locken ihn in nebelverhüllte Fernen... 23Und so verläßt er den Vater und eilt nach der weißen Steinstadt Moskau. Eile nur, Jüngling,eile! Dort wirst du alles erfahren, wirst am Quell des Wissens deinen brennenden Durst stillen!Aber nein, die Hoffnung trog: dein Durst ist noch brennender geworden – du hast ihn nur stärkernoch gereizt. Weiter, immer weiter, kühner Jüngling! Dorthin, in das gelehrte Deutschland,dort liegt der Garten Eden, und in diesem Garten steht der Baum des Lebens, der Baumder Erkenntnis, der Baum des Guten und Bösen... Süß sind seine Früchte – eile, von ihnen zukosten... Und er eilt, er betritt den Zaubergarten, er sieht den verführerischen Baum und verschlingtgierig seine Früchte. Wie viele Wunder, wie viele Wonnen! Wie bedauert er, daß ernicht alles zugleich mitnehmen und in das teure Vaterland, die heilige Heimat, verpflanzenkann! ... Aber wie? ... Sollte er es nicht dennoch versuchen? ... Er ist doch Russe, also vermager alles, gibt es nichts Unmögliches für ihn; auf ihn wartet Schuwalow, also braucht er keineVorurteile, keine Feinde und keine Neider zu fürchten! ... Und nun hallt Rußland von Odenwider, führt Tragödien auf, begeistert sich an der Epopöe, lacht über lustige Possen, lauscht23 In Shukowskis Poem „Die zwölf schlafenden Jungfrauen“ wird Wadim, der Held, vom Klang eines Glöckchensfortgelockt.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
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