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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 174Reform. Sie erinnert sich an den Tag ihrer Geburt, weil sie offiziell früher existierte, als siewirklich zu existieren be-[291]gann; weil schließlich nicht eine Geistesrichtung, sondern einSchnittmuster, nicht wirkliche Bildung, sondern ein Privileg diese Gesellschaft gebildet hat.Sie begann ebenso wie unsere Literatur: als Kopie ausländischer Formen ohne jeden Inhalt,weder eigenen noch fremden, weil wir den eigenen Inhalt aufgegeben hatten, den fremdenjedoch nicht nur anzunehmen, sondern auch nur zu verstehen nicht imstande waren. DieFranzosen besaßen Tragödien; also los – auch wir schreiben Tragödien, und Herr Sumarokowvereinigte in seiner Person Corneille, Racine und Voltaire zugleich. Die Franzosen besaßenden berühmten Fabeldichter La Fontaine, und wieder übertrumpfte derselbe Herr Sumarokow,nach den Worten seiner Zeitgenossen zu urteilen, mit seinen Gleichnissen La Fontaine.Genau auf die gleiche Weise legten wir uns in kürzester Frist unsere eigenen hausbackenenPindars, Horaze, Anakreons, Homere, Virgile usw. zu. Die ausländischen Werke stecktenvoller Liebesgefühle und Liebesabenteuer, und gleich mußten auch wir unsere Werke mitihnen vollstopfen. Aber dort war die gedruckte Poesie eine Widerspiegelung der Poesie desLebens, die in Gedichten besungene Liebe war der Ausdruck einer Liebe, die den poetischenLebensinhalt der Gesellschaft bildete: bei uns ging die Liebe nur in die Bücher ein und bliebdann auch in ihnen stecken. Das ist auch heutzutage noch mehr oder weniger so geblieben.Wir lesen gern leidenschaftliche Gedichte, Romane, Novellen, und heutzutage hat eine derartigeLektüre selbst für junge Mädchen nichts Anstößiges. Manche von ihnen kritzeln sogarselber Verse, und oft keine schlechten. Von Liebe reden, über Liebe lesen und schreiben istbei uns sehr beliebt; aber selber lieben... das ist ganz etwas anderes! Das heißt, natürlich,wenn’s die Eltern erlauben, wenn die Leidenschaft in den heiligen Ehestand führen kann, ja,warum soll man da nicht auch lieben! Viele halten das nicht nur nicht für überflüssig, sondernsogar für notwendig und reden, wenn sie die Mitgift zur Frau nehmen, von Liebe ... Aber nurdeshalb lieben, weil das Herz nach Liebe verlangt, lieben ohne Hoffnung auf Heirat, allesdem hinreißenden Feuer der Leidenschaft zum Opfer bringen – Gott behüte, wie kann man soetwas! Das heißt doch, sich eine „Affäre“ auf den Hals ziehen, einen Skandal hervorrufen, inden Mund der Leute kommen, mit kränkender Aufmerksamkeit, Verurteilung, Verachtungverfolgt werden: und darüber hinaus – der Anstand, die Sittenregeln, die öffentliche Moral ...Ah! Ihr seid also Leute, deren Sittlichkeit gerade so weit [292] reicht wie ihre Vorsicht undumsichtige Wohlanständigkeit! Das ist schön und gut; doch warum widersprecht ihr euchdann mit eurer Vorliebe für Gedichte und Romane, eurer leidenschaftlichen Begeisterung fürpathetische Dramen? – Aber die Poesie ist eine Sache und das Leben eine andere: warum siedurcheinanderbringen, mag jede ihren eigenen Weg gehen: mag das Leben apathisch dahindösen,während die Dichtung es mit unterhaltsamen Träumereien beliefert. – Ja, das ist natürlicheine andere Sache! ...Das ganze Unglück ist jedoch, daß aus dieser anderen Sache notwendig etwas Drittes undrecht Mißgestaltetes hervorgeht. Wenn Leben und Poesie nicht natürlich, lebendig miteinanderverbunden sind, dann entsteht aus ihrer feindlich-abgesonderten Existenz eine pseudopoetischeund im höchsten Grade pathologische, verunstaltete Wirklichkeit. Getreu seiner angeborenenApathie döst ein Teil der Gesellschaft im Dreck grobmateriellen Daseins dahin;dafür strengt sich ein anderer, vorerst noch der Zahl nach kleinerer, aber schon ziemlich bedeutenderTeil aus allen Kräften an, sich eine poetische Existenz zu schaffen, Poesie und Lebenzu verknüpfen. Das geschieht bei ihnen recht einfach und recht unschuldig. Da sie in derGesellschaft keinerlei Poesie vorfinden, holen sie sie sich aus Büchern und stellen sich ihrLeben unter ihrem Bilde vor. Die Poesie sagt, daß die Liebe die Seele des Lebens ist: das heißtalso man muß lieben! Das ist ein richtiger logischer Schluß, das Herz selbst mitsamt dem Verstandspricht für ihn! Und da machen sich nun unser idealischer Jüngling oder unsere idealischeJungfrau auf die Suche, in wen sie sich verlieben könnten. Nach langen Überlegungen,welche Augen mehr Poesie in sich schließen – die blauen oder die schwarzen –‚ ist der Gegen-OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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