13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 17Literarische Träumereien(Fortsetzung)„Vorwärts, vorwärts, meine Geschichte!PuschkinDas Volk, oder richtiger: die Masse des Volkes, und die Gesellschaft schlugen also bei unsverschiedene Wege ein. Jenes blieb bei seinem früheren rohen und halbwilden Leben, seineneintönigen langgezogenen Weisen, in denen es Leid und Freud seiner Seele verströmte; diesedagegen veränderte sich, um nicht zu sagen, verbesserte sich zusehends, streifte alles Russischeab und vergaß sogar „russisch sprechen“; sie vergaß die poetischen Überlieferungen derVolksphantasie ihres Heimatlandes, die wundervollen Lieder voll tiefer Schwermut, süßerSehnsucht und übermütiger Ausgelassenheit und schuf sich eine Literatur, die ihr getreuerSpiegel war. Dabei muß bemerkt werden, daß sowohl die Volksmasse als auch die Gesellschaft,namentlich die letztere, sich in eine Menge von Arten, eine Menge von Abstufungenaufteilte. Die Volksmasse bekundete gewisse Anzeichen von Leben und Bewegung in denunmittelbar mit der Gesellschaft in Berührung stehenden städtischen Ständen, bei den Handwerkern,den Kleinhändlern und den Gewerbetreibenden. Die Not sowie die Konkurrenz derAusländer, die sich in Rußland ansiedelten, ließen sie, sobald es um Gewinn ging, rege undunternehmend werden, scheuchten sie gewaltsam aus ihrer alten Trägheit hinterm Ofen hervorund weckten das Streben nach Verbesserungen und Neuerungen, die ihnen bis dahin soverhaßt waren. Ihr fanatischer Haß gegen die Deutschen milderte sich von Tag zu Tag und istheute schließlich ganz geschwunden; sie lernten mit Müh und Not sogar ein bißchen lesenund schreiben und klammerten sich nur noch fester als früher an den weisen, althergebrachtenWahrspruch ihrer Väter: Wissen ist Licht, Unwissenheit – Finsternis. Das verheißt viel Gutesfür die Zukunft, zumal diese Stände von ihrer volkstümlichen Physiognomie nicht ein Jotaeingebüßt haben. Was die Unterschicht der Gesellschaft, d. h. den Mittelstand, anbelangt, soteilte sich dieser ebenfalls in viele Gattungen und Abarten, [30] unter denen die sogenanntenRasnotschinzy * ihrer überwiegenden Zahl nach an erster Stelle stehen. Dieser Stand hat PetersHoffnungen am schwersten enttäuscht: er eignete sich stets für ein paar Groschen Bildungan und benutzte seine russische Hellköpfigkeit und Findigkeit zu der tadelnswerten Beschäftigung,an den allerhöchsten Erlassen zu deuteln, und selbst als er gelernt hatte, wieman sich verbeugt und den Damen die Hand küßt, verlernte er nicht, mit seinen vornehmenHänden recht unvornehme Exekutionen vorzunehmen. Die Oberschicht der Gesellschaft dagegenahmte oder, richtiger gesagt, äffte nach besten Kräften den Ausländern nach...Doch das steht auf einem anderen Blatt. Man sagt, die Musen lieben die Stille und scheuenden Lärm der Waffen; ein an sich grundfalscher Gedanke. Wie dem aber auch sei – zu PetersZeiten bekam man nichts als Kanzelpredigten zu hören, an die sich heute bloß noch Gelehrteerinnern, aber nicht das Volk; denn diese mosaikartig buntscheckige, beredte oder, richtiger,zerredete Wortkunst war lediglich ein aufokulierter übler Sproß vom modernden Baum derkatholischen Scholastik des westlichen Klerus, nicht aber die lebendige, überzeugende Stimmeder heiligen Wahrheiten der Religion. Diese Literaturgattung ist bei uns noch nie richtigstudiert und gewertet worden. Wollte man den begeisterten Stimmen unserer LiteraturlehrerGlauben schenken, dann hätten wir auf dem Gebiet der geistlichen Redekunst so gut wie alleeuropäischen Völker übertroffen. Ich mache mich nicht anheischig, diese Frage zu entschei-* Als „Rasnotschinzy“ wurden um die Mitte des 19. Jahrh. in Rußland zusammenfassend die Leute bezeichnet,die, aus verschiedenen, nichtadligen sozialen Schichten stammend, zu gesellschaftlichen Funktionen und Postenaufstiegen, die früher nur dem Adel vorbehalten waren; so bildeten die „Rasnotschinzy“ die Keimform einesgebildeten bürgerlichen Mittelstands, einer bürgerlichen Intelligenz. – Die RedOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!