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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 169Spur von Leben und Wahrheit, sondern nur Prätensionen und idealisches Gefühl gibt. Sie verachtendie Menge und die Erde und hegen einen unversöhnlichen Haß gegen alles Materielle. DieserHaß wird bei ihnen oft zum Wunsch, sich überhaupt von der Materie loszumachen. Zu diesemZweck kasteien sie sich, essen manchmal eine Woche lang keinen Bissen, halten ihre Finger inbrennende Kerzen, legen sich unterm Kleid Schnee auf die Brust, trinken Essig und Tinte, gewöhnensich den Schlaf ab – und durch dieses Streben nach einem höheren, idealen Dasein bringensie es dahin, daß sie ihre Nerven zerrütten und bald zu einem einzigen lebendigen, höchstmateriellen Geschwür werden! ... Bekannt-[283]lich berühren sich die Extreme! Alle einfachenmenschlichen und besonders fraulichen Gefühle, wie zum Beispiel überschwengliche Leidenschaftder Gefühle, Mutterliebe, Neigung zu einem Mann, der nichts Ungewöhnliches, Genialesan sich hat, der nicht von Unglück verfolgt ist, nicht leidet, nicht krank und nicht arm ist – allediese einfachen Gefühle erscheinen ihnen trivial, nichtig, lächerlich und verächtlich. Besondersinteressant sind die Auffassungen der „idealischen Jungfrauen“ von der Liebe. Sie sind alle –Vestalinnen der Liebe, denken, schwärmen, reden und schreiben nur von Liebe. Aber sie lassennur die reine, unirdische, ideale, platonische Liebe gelten. Die Ehe ist in ihren Augen eine Profanationder Liebe; Glück macht die Liebe trivial. Sie müssen unbedingt einsam lieben, und ihrehöchste Seligkeit ist es, beim Mondschein vom Gegenstand ihrer Liebe zu träumen und dem Gedankennachzuhängen: „Vielleicht schaut in diesem Augenblick auch Er den Mond an undträumt von mir; Liebe kennt ja keine Trennung!“ Klägliche Fische mit kaltem Blut, die sie sind,halten die idealischen Jungfrauen sich für Vögel; wenn sie im trüben Wasser künstlicher nervöserExaltiertheit herumschwimmen, bilden sie sich ein, in den Wolken hoher Gefühle und Gedankenzu schweben. Alles, was von Herzen kommt, einfach, wahr und leidenschaftlich ist, ist ihnenfremd; während sie sich einbilden, alles „Erhabene und Schöne“ zu lieben, lieben sie nur sichselbst und kommen gar nicht auf den Gedanken, daß sie nur ihre kleine Eigenliebe mit eingebildetenKnallfröschen kitzeln, wenn sie sich für Vestalinnen der Liebe und der Entsagung halten.Viele von ihnen hätten gar nichts dagegen, zu heiraten, geben bei der ersten Gelegenheit plötzlichihre Überzeugung auf und werden aus idealischen Jungfrauen schnell zu den allergewöhnlichstenWeihern; bei einigen jedoch geht die Fähigkeit, sich mit phantastischen Hirngespinsten selbst zubetrügen, so weit, daß sie fürs ganze Leben exaltierte, reine Jungfern bleiben und bis zu siebzigJahren auf diese Weise die Fähigkeit zu sentimentaler Exaltiertheit, zu einem neurotischen Idealismusbewahren. Die besten dieser Gattung von Frauen kommen früher oder später zur Besinnung,aber ihre einstige Verirrung wird für ewig zum bösen Dämon ihres Lebens und vergiftetihre Ruhe und ihr Glück gleich der Nachwirkung einer schlecht ausgeheilten Krankheit. Dieschlimmsten von allen sind jene idealischen Jungfrauen, die der Ehe nicht nur nicht aus dem Wegegehen, sondern in der Ehe mit dem Gegenstand ihrer Liebe die höchste irdische [284] Seligkeitsehen: mit ihrem beschränkten Verstand, ihrem völligen Mangel an sittlicher Entwicklungund ihrer verdorbenen Phantasie denken sie sich ihr eigenes Ideal des Eheglücks aus – und wennsie sehen, daß ihr törichtes Ideal sich nicht verwirklichen läßt, dann rächen sie sich an ihren Männernfür ihre bittere Enttäuschung.Zu idealischen Jungfrauen aller Gattungen werden größtenteils junge Mädchen, die in ihrerEntwicklung sich selbst überlassen waren. Und wie soll man ihnen einen Vorwurf darausmachen, daß aus ihnen statt lebendiger Wesen moralische Mißgeburten werden? Die sie umgebendepositive Wirklichkeit ist wirklich höchst trivial, und sie gelangen ungewollt zu derunerschütterlichen Überzeugung, daß nur das gut ist, was dieser Wirklichkeit nicht ähnlich,was ihr diametral entgegengesetzt ist. Übrigens führt ja jede urwüchsige Entwicklung, dienicht auf dem Boden der Wirklichkeit, nicht in der Sphäre der Gesellschaft vor sich geht,stets zu Mißbildungen. Auf diese Weise sehen sie sich zwei Extremen gegenüber: entwederauf die übliche Weise, wie alle Welt, oder auf originelle Art trivial zu werden. Sie wählen dasletztere, bilden sich aber ein, sie seien von der Erde über die Wolken hinausgesprungen, währendsie tatsächlich nur aus der positiven Trivialität in die schwärmerische Trivialität hin-OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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