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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 166Männer, die sie in ihrem Hause sieht, ihren Bräutigam und sagt oft, daß sie ihr Papachenoder ihr Brüderchen heiraten werde; schon in der Wiege reden ihr alle ein – Mutter, Vater,Schwestern, Brüder, Amme, Kindermädchen und alle Leute um sie herum –‚ sie sei Brautund müsse einen Bräutigam haben. Kaum ist sie zwölf Jahre alt, da sagt ihr die Mutter, wennsie ihr Vorwürfe über Faulheit, schlechte Haltung oder irgendeinen ähnlichen Mangel macht:„Schämen Sie sich denn nicht, Fräulein: Sie sind doch schon Braut!“ Ist es nach alledemverwunderlich, daß sie nicht fähig, nicht imstande ist, sich als weibliches Wesen, als Menschenzu betrachten, und sich nur als Braut sieht? Ist es verwunderlich, daß von Kindesbeinenan bis in die späte Jugend und manchmal selbst bis ins hohe Alter all ihr Denken, alle Träume,alles Streben, alle Gebete nur auf die eine fixe Idee gerichtet sind: auf die Heirat – daßdas Heiraten ihr einziger, leidenschaftlicher Wunsch, Ziel und Sinn ihrer Existenz ist, daß siesonst von nichts eine Ahnung hat, an nichts anderes denkt, sich nichts anderes wünscht unddaß sie jeden unverheirateten Mann wiederum nicht als Menschen betrachtet, sondern nur alsBräutigam? Und kann man ihr einen Vorwurf daraus machen? Schon mit achtzehn Jahrenbeginnt sie zu spüren, daß sie nicht die Tochter ihrer Eltern, [278] nicht ihr geliebtes Herzenskind,nicht die Freude und das Glück ihrer Familie, nicht eine Zierde des Hauses ist, sonderneine Last, eine Ware, die liegenzubleiben droht, ein überflüssiges Stück Möbel, das, hastdu nicht gesehen, seinen Preis verlieren und unverkäuflich bleiben kann. Was bleibt ihr anderesübrig, als alle ihre Fähigkeiten auf die Kunst des Freierfangs zu konzentrieren? Und diesum so mehr, als dank den Lehren der „verehrten Eltern“, der lieben Tanten, Kusinen usw.auch ihre Fähigkeiten sich nur in dieser Richtung entwickeln. Was ist der ärgste Vorwurf, deneine sorgende Mama ihrer Tochter macht? – daß sie sich nicht geschickt genug bemüht, esnicht versteht, vielversprechende Freier anzuäugeln und anzuzwinkern, oder daß sie ihre Liebenswürdigkeitan Leute verschwendet, die keine gute Partie für sie darstellen. Was bringtman ihr vor allem bei? – Wohlüberlegt zu kokettieren, sich als Engel zu geben, ihre Katzenkrallenim weichen, glänzenden Samtfell ihrer Katzenpfötchen zu verstecken. Und wie diearme Tochter von Natur aus auch sein mag – sie findet sich ungewollt in die Rolle, die ihr dasLeben zuweist und in deren Mysterium man sie so angelegentlich, so gründlich einweiht. ZuHause läuft sie schlampig, ungekämmt, in einem fleckigen, zu engen und zu kurzen Kleidchenaus verwaschenem Kattun herum, in geflickten Schuhen, in schmutzigen, herunterhängendenStrümpfen: wer sieht uns auf dem Lande schon, außer den Bedienten – lohnt es sich,sich für sie zu putzen? Aber kaum läßt sich hinten auf der Landstraße eine Equipage erblikken,die unerwartete Gäste verspricht, und schon hebt unsere Braut die Hände hoch undschlenkert sie lange über dem Kopf und schreit aus vollem Halse: Gäste kommen, Gästekommen! Dann werden die roten Hände weiß: eine alte Dorfschlauheit! Da gerät das ganzeHaus in Aufregung. Mamachen und Töchterchen waschen sich, kämmen sich, ziehen guteSchuhe an und streifen vor fünf Jahren genähte wollene oder seidene Kleider über dieschmutzige Unterwäsche. Wer wird sich um saubere Wäsche kümmern: die Wäsche ist dochunterm Kleide, und niemand sieht sie. Und das Herausputzen ist bekanntlich für die andernbestimmt und nicht für einen selbst. Aber nun sind endlich früher oder später die geheimenWünsche und glühenden Verheißungen drauf und dran, in Erfüllung zu gehen: die Brautanwärterinist nun bereits wirklich Braut und putzt sich nur für den Bräutigam. Sie hat ihnschon lange gekannt, aber in ihn verliebt hat sie sich erst in dem Augenblick, als sie erkannte,[279] daß er Absichten auf sie hat, und sie hält sich auch wirklich für verliebt. Das krankhafteStreben nach der Heirat und die Freude über das erreichte Ziel sind imstande, in einem einzigenAugenblick Liebe in einem Herzen zu erregen, das bereits so lange durch heimlichesoder offenes Schwärmen von der Ehe in Erregung versetzt war. Wenn es eilt und man vonallen Seiten drängt, verliebt man sich auf einen Schlag, ob man will oder nicht, einfach weilman gar nicht Zeit hat, sich zu fragen, ob man wirklich liebt oder ob es einem nur soscheint... Die „verehrten Eltern“ haben ihrer Tochter jedoch lediglich die Kunst beigebracht,OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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