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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 164Dann endlich, mürb vor Gicht und Fett,Als Biedergreis im Sterbebett,Umheult von Weib und KinderscharenUnd von der Ärzte Kunst mißbraucht,Den letzten Seufzer ausgehaucht.“[274] Wir sind überzeugt, daß Lenski bestimmt das letztere beschieden gewesen wäre. Er hatteviel Gutes an sich, als Bestes jedoch, daß er jung war und zur rechten Zeit für seine Reputationstarb. Er war keine von jenen Naturen, für die Leben soviel bedeutet, wie sich entwickeln undvorwärtsschreiten. Er war – wir wiederholen es – ein Romantiker und nichts weiter.Wäre er am Leben geblieben, so hätte Puschkin nichts mit ihm anfangen können, außer ineinem ganzen Kapitel breit auszuführen, was er so vollständig in einer Strophe ausgesprochenhat. Menschen von der Art Lenskis haben bei allen unbestreitbaren Vorzügen das Unangenehmean sich, daß sie entweder zu vollendeten Philistern entarten oder, wenn sie ihrenursprünglichen Typus für immer beibehalten, zu jenen veralteten Mystikern und Schwärmernwerden, die ebenso peinlich wie idealische alte Jungfern und die größere Feinde jedes Fortschrittssind als einfache, prätensionslos triviale Menschen. 8 Ewig im eignen Ich wühlendund sich zum Zentrum der Welt machend, blicken sie ungerührt auf alles, was in der Weltgeschieht, und behaupten unentwegt, das Glück liege in uns, man müsse mit der Seele nachder Traumwelt jenseits der Sterne streben und nicht an die Eitelkeiten dieser Erde denken, woes Hunger gibt und Not und... Die Lenskis sind auch heute nicht ausgestorben, sie sind nurdegeneriert. Von dem, was bei Lenski so bezaubernd schön war, ist ihnen nichts geblieben;ihnen fehlt die jungfräuliche Herzensreinheit, sie haben nur noch die anspruchsvolle Einbildung,groß zu sein, und die Leidenschaft des Papiervollschmierens. Sie sind alle Dichter, undsie allein sind die Lieferanten des Versballasts in den Zeitschriften. Kurz, sie sind heute dieunerträglichsten, leersten und trivialsten Leute.Tatjana... doch von ihr wollen wir im nächsten Aufsatz sprechen. [275]Die Werke Alexander PuschkinsSt. Petersburg. Elf TeileMDCCCXXXVIII-MDCCCXLINeunter Aufsatz„Eugen Onegin“(Schluß)Groß war die Tat Puschkins, daß er als erster in seinem Roman ein poetisches Abbild derrussischen Gesellschaft jener Zeit schuf und in den Gestalten Onegins und Lenskis ihrehauptsächliche, d. h. die männliche Seite zeigte. Aber eine vielleicht noch größere Tat hatunser Dichter damit vollbracht, daß er in der Gestalt der Tatjana als erster ein poetisches Abbildder russischen Frau schuf. Der Mann spielt in allen Ständen, in allen Schichten der russischenGesellschaft die erste Rolle; wir können jedoch nicht sagen, daß die Frau bei uns einesekundäre und geringere Rolle spielt, weil sie einfach überhaupt keine Rolle spielt. EineAusnahme machen höchstens die obersten Kreise, wenigstens bis zu einem gewissen Grad.Es ist längst an der Zeit, einzugestehen, daß ungeachtet unseres leidenschaftlichen Drangs, inallem europäische Gebräuche zu kopieren, ungeachtet unserer Bälle und Tanzvergnügen,8 In dieser strengen Charakteristik Lenskis äußerte sich die schroff ablehnende Einstellung Belinskis zur Romantik,gegen die er nach 1840 einen heftigen Kampf führte.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 165ungeachtet der verzweifelt-empörten Klagen der Slawophilen, wir seien ganz und gar zuDeutschen entartet – ungeachtet alles dessen sollten wir endlich eingestehen, daß wir bis jetztnoch recht schlechte Ritter sind, daß unsere Achtung für die Frau, unsere Bereitschaft, für siezu leben und zu sterben, bis heute irgendwie theatralisch sind und nach weltmännischen Modephrasenriechen, die dabei noch nicht einmal unsere eigene Erfindung, sondern nur entlehntsind. Heutzutage bringt es auch ein ehrwürdiger bärtiger Kaufmann, der ein bißchen nachKohl und Zwiebeln riecht, fertig, wenn er mit der Ehehälfte über [276] die Straße geht, ihrden Arm zu reichen, statt sie mit dem Knie ins Kreuz zu stoßen, macht sie auf den Weg aufmerksamund läßt sie nicht nach allen Seiten gaffen; aber zu Hause... doch warum sollen wirdavon reden, was zu Hause geschieht, warum schmutzige Wäsche waschen? ... Wir nehmenein paar fertige fremde Phrasen auf und schreien in Versen wie in Prosa: „Die Frau ist dieKönigin der Gesellschaft; ihre bezaubernde Anwesenheit verschönt die Gesellschaft“ usw.Aber man sehe sich einmal unsere Gesellschaften an (mit Ausnahme derer der großen Welt):überall sitzen die Männer hier und die Frauen gesondert. Selbst der abgebrühteste Courmacher* scheint, wenn er mit Frauen zusammensitzt, nur der Höflichkeit ein Opfer zu bringen;dann steht er auf und geht ganz ermattet, wie nach schwerer Arbeit, ins Herrenzimmer hinüber,als wollte er endlich einmal frei aufatmen und sich erholen. In Europa ist die Frau wirklichdie Königin der Gesellschaft: erfreut und stolz ist der Mann, mit dem sie mehr redet alsmit einem andern. Bei uns ist es umgekehrt; bei uns wartet die Frau wie auf eine Gnade darauf,daß ein Mann sie ins Gespräch zieht; sie ist glücklich und stolz, wenn er ihr Beachtungschenkt. Und wie kann es auch anders sein, wenn es bei uns statt dessen, was man guten Tonund Höflichkeit nennt, nur affektiertes Getue gibt, wenn man bei uns ganz allgemein Poesienur in Büchern liebt, im Leben jedoch mehr Angst vor ihr hat als vor Pest und Cholera. Wiesoll man denn einem Mädchen den Arm reichen, wenn es nicht wagt, sich auf ihn zu stützen,ohne vorher ihr Mamachen um Erlaubnis gefragt zu haben? Wie soll man sich entschließen,viel und oft mit ihm zu reden, wenn man weiß, daß man dann gleich als in sie verliebt odersogar als Bräutigam angesprochen wird? Das hieße nur, das Mädchen kompromittieren undselbst in Teufels Küche kommen. Gilt man einmal als verliebt in ein Mädchen, dann gibt eskeine Rettung mehr vor zweideutigen, witzigen Bemerkungen und Neckereien von seiten derFreunde, vor naiven, wohlgemeinten Fragereien von seiten völlig gleichgültiger Leute. Nochschlimmer aber wird es, wenn die Leute der Meinung sind, man wolle das Mädchen heiraten:wenn die Eltern in einem keine gute Partie für ihre Tochter sehen, verschließen sie einem dasHaus und verbieten der Tochter aufs strengste, ihm in fremden Häusern freundlich zu begegnen.Wird man als gute Partie angesehen, dann gibt es neues, noch schlimmeres Unheil: dannwerden Netze und Fallen ausgestellt, und man sieht sich aller Voraus-[277]sicht nach regelrechtverheiratet, ehe man Zeit gehabt hat, zu sich zu kommen und sich zu fragen: ja, wie undwann ist denn das bloß alles geschehen? Hat man aber Charakter und gibt nicht einfach nach,dann zieht man sich eine „Affäre“ auf den Hals, die man so schnell nicht wieder vergißt. Woherkommt das alles? – Daher, daß man bei uns nicht versteht und nicht verstehen will, wasdie Frau ist, daß man gar kein Bedürfnis nach ihr empfindet, nicht nach ihr verlangt und sienicht sucht, kurz, daher, daß es bei uns keine Frauen gibt. Das „schöne Geschlecht“ kommtbei uns nur in Romanen, Novellen, Dramen und Elegien vor; in der Wirklichkeit jedoch zerfälltes in vier Gruppen: in Mädchen, in Bräute, in verheiratete Frauen und schließlich in alteJungfern und alte Weiber. Die ersteren gelten als Kinder und interessieren niemanden; dieletzteren sind allgemein gefürchtet und gehaßt (und oft mit Recht); unser schönes Geschlechtbesteht also aus zwei Abteilungen: aus Jungfern, die heiraten sollen, und aus Frauen, die bereitsverheiratet sind. Das russische Mädchen ist nicht Frau im europäischen Sinn dieses Wortes,ist kein Mensch: sie ist einzig und allein angehende Braut. Schon als Kind nennt sie alle* jemand, der einer Frau den Hof machtOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 164Dann endlich, mürb vor Gicht und Fett,Als Biedergreis im Sterbebett,Umheult von Weib und KinderscharenUnd von der Ärzte Kunst mißbraucht,Den letzten Seufzer ausgehaucht.“[274] Wir sind überzeugt, daß Lenski bestimmt das letztere beschieden gewesen wäre. Er hatteviel Gutes an sich, als Bestes jedoch, daß er jung war und zur rechten Zeit für seine Reputationstarb. Er war keine von jenen Naturen, für die Leben soviel bedeutet, wie sich entwickeln undvorwärtsschreiten. Er war – wir wiederholen es – ein Romantiker und nichts weiter.Wäre er am Leben geblieben, so hätte Puschkin nichts mit ihm anfangen können, außer ineinem ganzen Kapitel breit auszuführen, was er so vollständig in einer Strophe ausgesprochenhat. Menschen von der Art Lenskis haben bei allen unbestreitbaren Vorzügen das Unangenehmean sich, daß sie entweder zu vollendeten Philistern entarten oder, wenn sie ihrenursprünglichen Typus für immer beibehalten, zu jenen veralteten Mystikern und Schwärmernwerden, die ebenso peinlich wie idealische alte Jungfern und die größere Feinde jedes Fortschrittssind als einfache, prätensionslos triviale Menschen. 8 Ewig im eignen Ich wühlendund sich zum Zentrum der Welt machend, blicken sie ungerührt auf alles, was in der Weltgeschieht, und behaupten unentwegt, das Glück liege in uns, man müsse mit der Seele nachder Traumwelt jenseits der Sterne streben und nicht an die Eitelkeiten dieser Erde denken, woes Hunger gibt und Not und... Die Lenskis sind auch heute nicht ausgestorben, sie sind nurdegeneriert. Von dem, was bei Lenski so bezaubernd schön war, ist ihnen nichts geblieben;ihnen fehlt die jungfräuliche Herzensreinheit, sie haben nur noch die anspruchsvolle Einbildung,groß zu sein, und die Leidenschaft des Papiervollschmierens. Sie sind alle Dichter, undsie allein sind die Lieferanten des Versballasts in den Zeitschriften. Kurz, sie sind heute dieunerträglichsten, leersten und trivialsten Leute.Tatjana... doch von ihr wollen wir im nächsten Aufsatz sprechen. [275]Die Werke Alexander PuschkinsSt. Petersburg. Elf TeileMDCCCXXXVIII-MDCCCXLINeunter Aufsatz„Eugen Onegin“(Schluß)Groß war die Tat Puschkins, daß er als erster in seinem Roman ein poetisches Abbild derrussischen Gesellschaft jener Zeit schuf und in den Gestalten Onegins und Lenskis ihrehauptsächliche, d. h. die männliche Seite zeigte. Aber eine vielleicht noch größere Tat hatunser Dichter damit vollbracht, daß er in der Gestalt der Tatjana als erster ein poetisches Abbildder russischen Frau schuf. Der Mann spielt in allen Ständen, in allen Schichten der russischenGesellschaft die erste Rolle; wir können jedoch nicht sagen, daß die Frau bei uns einesekundäre und geringere Rolle spielt, weil sie einfach überhaupt keine Rolle spielt. EineAusnahme machen höchstens die obersten Kreise, wenigstens bis zu einem gewissen Grad.Es ist längst an der Zeit, einzugestehen, daß ungeachtet unseres leidenschaftlichen Drangs, inallem europäische Gebräuche zu kopieren, ungeachtet unserer Bälle und Tanzvergnügen,8 In dieser strengen Charakteristik Lenskis äußerte sich die schroff ablehnende Einstellung Belinskis zur Romantik,gegen die er nach 1840 einen heftigen Kampf führte.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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