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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 154rum? – Darum, verehrte Herren, weil es hohle Menschen leichter haben, zu fragen, als gescheite,zu antworten...„Allein inmitten seiner Güter,Auch weil er sonst noch nichts getan.Verfiel Eugen als OrtsgebieterAuf einen neuen Wirtschaftsplan:Als freier Geist in engen ZeitenErließ er seinen armen LeutenDie altererbte harte Fron;Sie dankten ihm mit Gotteslohn.Darob erboste sich im WinkelDer geiz’ge Nachbar, weil für ihnSolch Beispiel höchst gefährlich schien;Gespottet ward sogar aus Dünkel,Und alle kamen überein:Das muß ein schlimmer Vogel sein!Erst gab’s noch oft Besuch und Gönner;Doch weil er sich verschmitzt erwiesUnd jedesmal sich flugs den RennerIm Hinterhofe satteln ließ,Sobald er vorn die stark beschwerteFamilienkutsche rumpeln hörte,Verschnupfte diese Prellerei,Und mit der Freundschaft war’s vorbei.‚Der Nachbar ist verrückt, ein FlegelUnd Umsturzmann, so frech wie roh;Sitzt immerfort beim Glas Bordeaux;Vergißt vor Fraun die Anstandsregel;Brummt weiter nichts als ja und nein,Der Tropf!‘ So hieß es allgemein.“Etwas Rechtes tun kann man nur in der Gesellschaft, auf Grund gesellschaftlicher Bedürfnisse,die von der Wirklichkeit selbst und nicht von einer Theorie angegeben werden; aber washätte Onegin in Gemeinschaft mit solchen prächtigen Nachbarn, im Kreise solch netter Nächstertun sollen? Das Los des Bauern zu erleichtern, bedeutete natürlich viel für den Bauern,aber von seiten Onegins war damit noch wenig getan. Es gibt Menschen, die, wenn es ihneneinmal gelungen ist, irgend etwas Ordentliches zu tun, selbstzufrieden der ganzen Welt davonerzählen und auf diese Weise eine angenehme Beschäftigung fürs ganze Leben haben.Onegin gehörte nicht [260] zu diesen Menschen: was den Vielen wichtig und groß erschien,war für ihn nicht Gott weiß was Besonderes.Ein Zufall brachte Onegin mit Lenski zusammen; durch Lenski lernte Onegin die FamilieLarin kennen. Auf dem Heimweg nach dem ersten Besuch gähnt Onegin; aus seinem Gesprächmit Lenski erfahren wir, daß er Tatjana für die Braut seines Freunds gehalten hatteund sich, als er seinen Irrtum erfährt, über Lenskis Wahl wundert, wobei er sagt, wenn erselbst Dichter wäre, hätte er Tatjana gewählt. Für diesen gleichgültigen, erkalteten Menschengenügten ein oder zwei unaufmerksame Blicke, um den Unterschied zwischen den beidenSchwestern zu erkennen – während es dem glühenden, begeisterten Lenski auch nicht einmalin den Sinn gekommen war, daß seine Geliebte durchaus kein ideales, poetisches Wesen war,sondern ein hübsches, einfältiges Mädchen, durchaus nicht des Risikos wert, ihretwegen einenFreund zu töten oder selbst getötet zu werden. Während Onegin gähnte – aus Gewohnheit,um mit seinen eignen Worten zu reden, und durchaus nicht, weil er sich Gedanken überdie Familie Larin machte –‚ hatte sein Besuch in dieser Familie den Knoten eines furchtbareninneren Dramas geschürzt. Das Publikum war in seiner Mehrheit höchst verwundert, wieOnegin, als er den Brief Tatjanas erhielt, sich nicht in sie verlieben konnte, und mehr noch,OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 155wie dieser selbe Onegin, der so kalt die reine, naive Liebe des schönen Mädchens zurückwies,sich später leidenschaftlich in die glänzende Weltdame verliebte. Darüber kann mansich wirklich wundern. Wir machen uns nicht anheischig, die Frage zu beantworten, aber wirwollen auf sie eingehen. Wenn wir übrigens in dieser Tatsache die Möglichkeit eines psychologischenProblems anerkennen, finden wir die Tatsache selbst dennoch durchaus nicht verwunderlich.Erstens halten wir die Frage, warum er sich verliebt hat oder warum er sich nichtverliebt hat oder warum er sich damals nicht verliebt hat, für ein bißchen zu diktatorisch. DasHerz hat seine Gesetze – gewiß, aber sie sind nicht von der Art, daß man aus ihnen leichteinen vollständigen, systematischen Kodex zusammenstellen könnte. Seelenverwandtschaft,moralische Sympathie, Ähnlichkeit der Auffassungen können und müssen sogar in der Liebevernünftiger Wesen eine große Rolle spielen; aber wer in der Liebe das rein unmittelbareElement, die instinktive, unfreiwillige Neigung, die Laune des Herzens leugnet, die das einbißchen triviale, aber höchst ausdrucksvolle [261] russische Sprichwort bestätigt: „Ein Teufel,den man liebt, ist schöner als der schönste Falke“ – wer das leugnet, der versteht nichtsvon Liebe. Wenn in der Liebe die Wahl nur durch Wille und Vernunft bestimmt würde, sowäre die Liebe kein Gefühl und keine Leidenschaft. Das Element der Unmittelbarkeit läßtsich auch in der vernünftigsten Liebe erkennen, denn unter einigen gleichwürdigen Personenwird nur eine gewählt, und diese Wahl beruht auf der ungewollten Neigung des Herzens. Eskommt aber auch vor, daß Menschen, die wie füreinander geschaffen sind, einander gleichgültigbleiben und daß jeder von ihnen sein Gefühl einem durchaus nicht zu ihm passendenWesen zuwendet. Deswegen hatte Onegin, ohne jede Angst vor dem Kriminalgericht der Kritik,das volle Recht, Tatjana als Mädchen nicht zu lieben und Tatjana als Frau zu lieben. Imeinen wie im anderen Falle handelte er weder moralisch noch unmoralisch. Das genügt vollkommenzu seiner Rechtfertigung; aber wir wollen noch etwas hinzufügen. Onegin war soklug, feinfühlig und erfahren, verstand die Menschen und ihr Herz so gut, daß er aus demBrief Tatjanas verstehen mußte, daß dieses arme Mädchen mit einem leidenschaftlichen, nachSchicksalsnahrung dürstenden Herzen begabt war, daß ihre Seele kindlich rein, daß ihre Leidenschaftjugendlich-einfältig war und daß sie in nichts jenen Koketten ähnelte, die er mitsamtihren bald leichtfertigen, bald gespielten Gefühlen satt hatte. Er war lebhaft gerührtdurch den Brief Tatjanas:„Von dieses Kindes reinem WesenIm tiefsten Innern aufgeregtEr sah die kummerbleichen Wangen,Ihr bittend Auge, florumfangen –Und fühlte, wie ein süßer BannIn seiner Seele Macht gewann.Vielleicht war alte SinnenliebeVorübergehend mit im Spiel –Doch sträubte sich sein EhrgefühlVor Mißbrauch keuscher Unschuldstriebe.In seinem Brief an Tatjana (im achten Kapitel) sagt er, er habe ihr, als er einen Funken Zärtlichkeitin ihr bemerkte, nicht glauben wollen (d. h. er habe sich gezwungen, nicht zu glauben),habe der lieben Gewohnheit nicht freien Lauf gelassen und sich nicht von seiner verhaßtenFreiheit trennen wollen. Aber wenn er die eine Seite der Liebe Tatjanas zu schätzenwußte, so sah er gleichzeitig [262] ebenso klar auch ihre andere Seite. Erstens hätte, sichdurch eine solche kindlich-schöne Liebe verführen zu lassen und ihr bis zum Wunsch, sie zuerwidern, nachzugehen, für Onegin den Entschluß zur Heirat bedeutet. Wenn ihn jedoch diePoesie der Leidenschaft noch interessieren konnte, so hatte die Poesie der Ehe für ihn nichtnur kein Interesse, sondern war ihm zuwider. Der Dichter, der in Onegin viel Eigenes zumAusdruck gebracht hat, spricht sich hierüber, von Lenski redend, folgendermaßen aus:OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
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