Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 150Wie schnell des Lebens Wahn zerrinnt.Er kann nun all den Zauber missen,Verzehrt sich in GewissensbissenUnd spürt der Reue dumpfe Pein ...Dergleichen spendet insgeheimDer Unterhaltung reiche Würze.Erst quälte mich Onegins Ton;Doch ich gewöhnte bald mich schonAn seine blendend scharfe Kürze,Den spöttisch überlegnen Stil,Das fein geschliffne Redespiel.Wie oft – wenn in der sommerhellen,Durchsicht’gen Nacht, des Mondes bar,Sich in der heitern Newa WellenSpiegelten leuchtend, weiß und klarDie endlos hohen Himmelsräume –Ging unser Flug ins Reich der Träume,Gedachten wir der Jugendzeit,Der ersten Liebe Last und Leid,Und schwelgten in Erinnerungen,Vom tiefen Zauber stumm berauscht!Wie ein Gefangner träumend lauscht,Zum grünen Wald sich wähnt entsprungen,So trug uns lockend SchwärmersinnZum Frühling unsres Lebens hin.“Aus diesen Versen ersehen wir klar wenigstens so viel, daß Onegin weder kalt noch trockenoder gefühllos war, daß in seiner Seele Poesie lebte und daß er überhaupt nicht zu den gewöhnlichen,den Dutzendmenschen gehörte. Der unwillkürliche Hang zum Phantasieren, dieunbekümmerte Berauschtheit beim Anschauen der Naturschönheit und beim Gedenken an dieJugendzeit und an Lust und Leid der ersten Liebe: das alles spricht mehr für Gefühl und Poesieals für Kälte und Trockenheit. Nur liebte es Onegin nicht, im Phantasieren aufzugehen, erfühlte mehr, als er redete, und öffnete sich nicht jedem. Ein verbitterter Geist ist auch dasKennzeichen einer höheren Natur, denn der Mensch mit verbittertem Geist ist unzufriedennicht nur mit den Menschen, sondern auch mit sich selbst [254] Dutzendmenschen sind stetsmit sich zufrieden, und wenn es ihnen gut geht, auch mit allen anderen. Dummköpfe betrügtdas Leben nicht; im Gegenteil, es gibt ihnen alles; der Güter, die sie von ihm verlangen, sindja nicht viele – Futter, Tränke, Wärme und noch ein paar Spielsachen, die ihrer trivialen,kleinlichen Eigenliebe Spaß machen können. Enttäuschung am Leben, an den Menschen, ansich selbst (wenn sie nur echt und einfach ist, ohne Phrasen und ohne die Tuerei zur Schaugetragener Melancholie) findet sich nur bei Menschen, die „viel“ verlangen, denen aber„nichts“ recht ist. Der Leser wird sich an die Beschreibung des Arbeitszimmers Onegins (imsiebenten Kapitel) erinnern: der ganze Onegin steckt in dieser Beschreibung. Besonders frappierendist, daß zwei oder drei Romane der Ungnade entgehen, Romane,„Worin die nackte Wirklichkeit,Zumal der Mensch der heut’gen Zeit,Sich scharfumrissen widerspiegelt,Wie er, moralisch ohne Halt,Voll Egoismus nüchternkalt,Beständig in Phantasmen klügelt,An bittrer Weltverachtung kranktUnd inhaltslos durchs Leben wankt.“Man wird sagen: Das ist das Porträt Onegins. Das ist wahrscheinlich richtig; das spricht jedochnoch mehr für die moralische Überlegenheit Onegins, weil er sich in diesem Porträtwiedererkannt hat, das wie ein Ei dem anderen so vielen Leuten ähnelt, in dem sich jedochOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 151nur so wenige wiedererkennen und bei dem die Mehrheit „heimlich an Peter denkt“. Oneginspiegelte sich nicht selbstzufrieden in diesem Porträt, sondern litt dumpf unter seiner frappierendenÄhnlichkeit mit den Kindern unsres Jahrhunderts. Nicht die Natur, nicht Leidenschaften,nicht persönliche Verirrungen haben Onegin diesem Porträt ähnlich gemacht, sonderndas Jahrhundert.Die Verbindung mit Lenski – diesem jungen Schwärmer, der unserem Publikum so gefallenhat – spricht besonders laut gegen die angebliche Herzlosigkeit Onegins. Onegin verachtetedie Menschen. Aber eben deshalb„Verstand er, scharf zu unterscheiden,So daß er manchen gelten ließUnd seinem Herz Respekt erwies.Drum ließ er Lenski ruhig schwärmen,Begeistert in den Himmel schaun, [255]Sich an der Rede Glanz erwärmenUnd arglos seinen Sinnen traun;Ihm war‘s so neu, so ungewöhnlich.Auch hielt er, von Natur versöhnlich,Mit kühlem Widerspruch zurückUnd dachte: soll ich ihm dies GlückDer kurzen Täuschung jetzt schon rauben?Das tut die Zeit ja später doch.Mag denn dies Herz einstweilen nochAns Paradies der Erde glauben,Und Nachsicht drum dem jungen Blut,Dem jungen Wahn, der jungen Glut!Sie stritten über jede Frage,Die Stoff zum Disputieren bot:Das Völkerschicksal grauer Tage,Das Leben vor und nach dem Tod,Das Vorurteil, an dem wir kranken,Und unsrer Weisheit enge Schranken,Ja, oft sogar ward Gott und WeltNoch ernster Prüfung unterstellt.“Die Dinge sprechen für sich selber: die stolze Kälte und Trockenheit die überhebliche HerzlosigkeitOnegins als Menschen sind ein Produkt der groben Unfähigkeit vieler Leser, denvom Dichter so wahrheitsgetreu geschaffenen Charakter zu verstehen. Aber wir wollen hierbeinicht haltmachen und die ganze Frage erschöpfend behandeln.„Doch dieser Sonderling und Spötter,Den Himmel oder Hölle schuf,Mit Engelsfittich, Teufelshuf –Was stellt er vor? Ein bloßes Schemen,Ein Trugbild? Ist er, wie’s geschieht,Ein Moskowitergeck, bemüht,Childe Harolds Maske anzunehmen?Ein Phrasenheld, der andern gleicht?Nur eine Parodie vielleicht?· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·‚Noch immer mit demselben SparrenWie früher? Oder abgekühlt?Was dünkt Sie, was er uns zum NarrenWohl heut für eine Rolle spielt?Stellt er sich wieder als Despoten,Kosmopoliten, Patrioten,Als Melmoth, Quäker oder garIn noch viel blödrer Maske dar? [256]OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
- Seite 99 und 100: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 101 und 102: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 103 und 104: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 105 und 106: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 107 und 108: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 109 und 110: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 111 und 112: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 113 und 114: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 115 und 116: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 117 und 118: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 119 und 120: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 121 und 122: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 123 und 124: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 125 und 126: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 127 und 128: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 129 und 130: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 131 und 132: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 133 und 134: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 135 und 136: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 137 und 138: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 139 und 140: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 141 und 142: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 143 und 144: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 145 und 146: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 147 und 148: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 149: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 153 und 154: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 155 und 156: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 157 und 158: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 159 und 160: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 161 und 162: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 163 und 164: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 165 und 166: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 167 und 168: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 169 und 170: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 171 und 172: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 173 und 174: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 175 und 176: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 177 und 178: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 179 und 180: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 181 und 182: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 183 und 184: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 185 und 186: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 187 und 188: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 189 und 190: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 191 und 192: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 193 und 194: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 195 und 196: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 197 und 198: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
- Seite 199 und 200: W. G. Belinski - Ausgewählte philo
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 151nur so wenige wiedererkennen und bei dem die Mehrheit „heimlich an Peter denkt“. Oneginspiegelte sich nicht selbstzufrieden in diesem Porträt, sondern litt dumpf unter seiner frappierendenÄhnlichkeit mit den Kindern unsres Jahrhunderts. Nicht die Natur, nicht Leidenschaften,nicht persönliche Verirrungen haben Onegin diesem Porträt ähnlich gemacht, sonderndas Jahrhundert.Die Verbindung mit Lenski – diesem jungen Schwärmer, der unserem Publikum so gefallenhat – spricht besonders laut gegen die angebliche Herzlosigkeit Onegins. Onegin verachtetedie Menschen. Aber eben deshalb„Verstand er, scharf zu unterscheiden,So daß er manchen gelten ließUnd seinem Herz Respekt erwies.Drum ließ er Lenski ruhig schwärmen,Begeistert in den Himmel schaun, [255]Sich an der Rede Glanz erwärmenUnd arglos seinen Sinnen traun;Ihm war‘s so neu, so ungewöhnlich.Auch hielt er, von Natur versöhnlich,Mit kühlem Widerspruch zurückUnd dachte: soll ich ihm dies GlückDer kurzen Täuschung jetzt schon rauben?Das tut die Zeit ja später doch.Mag denn dies Herz einstweilen nochAns Paradies der Erde glauben,Und Nachsicht drum dem jungen Blut,Dem jungen Wahn, der jungen Glut!Sie stritten über jede Frage,Die Stoff zum Disputieren bot:Das Völkerschicksal grauer Tage,Das Leben vor und nach dem Tod,Das Vorurteil, an dem wir kranken,Und unsrer Weisheit enge Schranken,Ja, oft sogar ward Gott und WeltNoch ernster Prüfung unterstellt.“Die Dinge sprechen für sich selber: die stolze Kälte und Trockenheit die überhebliche HerzlosigkeitOnegins als Menschen sind ein Produkt der groben Unfähigkeit vieler Leser, denvom Dichter so wahrheitsgetreu geschaffenen Charakter zu verstehen. Aber wir wollen hierbeinicht haltmachen und die ganze Frage erschöpfend behandeln.„Doch dieser Sonderling und Spötter,Den Himmel oder Hölle schuf,Mit Engelsfittich, Teufelshuf –Was stellt er vor? Ein bloßes Schemen,Ein Trugbild? Ist er, wie’s geschieht,Ein Moskowitergeck, bemüht,Childe Harolds Maske anzunehmen?Ein Phrasenheld, der andern gleicht?Nur eine Parodie vielleicht?· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·‚Noch immer mit demselben SparrenWie früher? Oder abgekühlt?Was dünkt Sie, was er uns zum NarrenWohl heut für eine Rolle spielt?Stellt er sich wieder als Despoten,Kosmopoliten, Patrioten,Als Melmoth, Quäker oder garIn noch viel blödrer Maske dar? [256]OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013