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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 149dies fühlen, aber nur wenige es zugeben: die gewohnheitsmäßige gutmütige, ehrliche Heucheleisiegt über die Vernunft. Es gibt Leute, die fähig sind, sich zu Tode zu kränken, wenn die riesigeFamilie der Verwandtschaft bei einem Besuch in der Hauptstadt nicht bei ihnen Wohnungnimmt; läßt sie sich aber bei ihnen nieder – so sind sie alles andere als froh; sie werden murrenund fluchen und jedermann unter der Hand ihr Leid klagen, aber vor den lieben Verwandtenwerden sie in Liebenswürdigkeit zerfließen und ihnen das Versprechen abnehmen – das nächsteMal wieder bei ihnen Wohnung zu nehmen und sie, im Namen der Verwandtschaft, ausdem eignen Haus zu verdrängen. Was bedeutet das? Durchaus nicht, daß die Verwandtschaftbei derartigen Leuten als Prinzip besteht, sondern nur, daß sie bei ihnen als Tatsache besteht:innerlich, überzeugungsgemäß, erkennt keiner von ihnen sie an, aber gewohnheitsmäßig, ohnenachzudenken und aus Heuchelei, erkennen alle sie an.Puschkin hat die Verwandtschaft dieser Art in der Gestalt gezeichnet, wie sie bei vielen besteht,wie sie wirklich ist, also zu Recht und der Wahrheit gemäß – und man ist ihm deshalb böse undhat [252] ihn unmoralisch genannt; man hätte ihn also, wenn er die Verwandtschaft bei gewissenLeuten so beschrieben hätte, wie sie nicht existiert, d. h. unrichtig und verlogen – gelobt.Das alles bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß nur Lüge und Unwahrheit moralischsind... da haben wir’s, wohin die gutmütige, ehrliche Heuchelei führt! Nein, Puschkin hat moralischgehandelt, wenn er als erster die Wahrheit sagte, denn es gehört ein edler Mut dazu, sichals erster zu entschließen, die Wahrheit zu sagen. Und wie viele solche Wahrheiten sind im„Onegin“ ausgesprochen! Viele von ihnen sind heute weder neu noch auch besonders tief; aberwenn Puschkin sie nicht vor zwanzig Jahren ausgesprochen hätte, wären sie heute sowohl neuals auch tief. Und darum ist es ein großes Verdienst Puschkins, daß er als erster diese veralteten,heute bereits seichten Wahrheiten ausgesprochen hat. Er hätte absolutere und tiefere Wahrheitenaussprechen können, aber dann hätte seinem Werk die Wahrhaftigkeit gefehlt: seineZeichnung des russischen Lebens wäre nicht dessen Ausdruck gewesen. Das Genie läuft seinerZeit nie voraus, sondern enträtselt stets nur seinen nicht für jedermann sichtbaren Sinn.Ein großer Teil des Publikums hat Onegin rundweg Seele und Herz abgesprochen, hat in ihmeinen von Natur kalten, trocknen und egoistischen Menschen gesehen. Man kann einen Menschennicht falscher und schiefer verstehen. Aber mehr noch: viele glaubten und glauben aufrichtig,daß der Dichter selbst in Onegin einen kalten Egoisten darstellen wollte. Das heißtnun schon – Augen haben und nicht sehen. Das Leben in der großen Welt hat in Onegin nichtdas Gefühl ertötet, sondern ihn nur für fruchtlose Leidenschaften und kleinliche Zerstreuungenerkalten lassen. Man erinnere sich an die Strophen, in denen der Dichter seine Bekanntschaftmit Onegin schildert:„Gleich ihm entflohn der Weltlust Plagen,Befreit aus hohler Formen Bann,Ward ich sein Freund in jenen Tagen.Er zog als Mensch mich lebhaft anMit seinem Hang zum Phantasieren,Den unnachahmlichen Manieren,Dem unbeirrbar scharfen Geist.Ich war verbittert, er vereist,Uns beide hatte schon das Leben,Der Leidenschaften Spiel genarrt,Uns beiden war das Herz erstarrt; [253]Wir hatten Jugend hingegeben,Und nur Fortunas blinden HohnUnd unsrer Mitwelt Haß zum Lohn.Wer lebt und urteilt, lernt beizeiten,Wie tief verächtlich Menschen sind;Wer fühlt, dem muß es Schmerz bereiten,OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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