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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 148Mehr noch: sie halten solch eine Frage für eine Sünde; und wenn sie sich dazu aufraffen würden,sie zu stellen, so würden sie sich selbst auslachen. Sie kommen gar nicht darauf, daß eshier nur über eins zu trauern gibt, nämlich über die triviale Komödie der gutmütigen Heuchelei,in der sie alle so eifrig und so ehrlich mitspielen.[250] Um nicht noch einmal zu ein und derselben Frage zurückzukehren, wollen wir hier einekleine Abschweifung machen. Um zu beweisen, eine wie wichtige Erscheinung nicht allein inästhetischer Hinsicht für unser Publikum Puschkins „Onegin“ war und wie neu und kühndamals in ihm die heute ältesten Gedanken und sogar schüchternen Halbgedanken schienen –wollen wir folgende Strophe anführen:„Hin, hin! Sind deine Vettern alle,Geneigter Leser, hübsch gesund?Dann hörst du auch in diesem FalleGewiß sehr gern durch ihren Mund,Was so Verwandtschaft meist bedeute:Verwandte sind die biedern Leute,Die man in HerzensüberflußVerehren, lieben, hätscheln mußUnd denen man aus reinstem TriebeZum Wiegenfeste, sehr gerührt,Selbst oder schriftlich gratuliert,Damit uns ihre Nächstenliebe(Gott soll sie segnen!) für den RestDes Jahres – ungeschoren läßt.“Wir erinnern uns, daß diese unschuldigen Strophen bei der Mehrzahl des Publikums nicht mehrOnegin, sondern dem Dichter selbst den Vorwurf der Amoralität eingetragen hat. Was ist hierdie Ursache, wenn nicht jene gutmütige, ehrliche Heuchelei, von der wir eben gesprochen haben?Brüder prozessieren mit Brüdern um ein Landgut und hegen füreinander oft einen solchabgründigen Haß, wie er zwischen Fremden undenkbar und nur unter Verwandten möglich ist.Das Recht der Verwandtschaft ist häufig nichts anderes als das Recht für den armen Verwandten– um eines Almosens willen vor dem Reichen auf dem Bauch zu rutschen; für den reichenVerwandten – den lästigen armen Schlucker zu verachten und ihn leer ausgehen zu lassen; fürgleich reiche – einander um den Erfolg im Leben zu beneiden; im allgemeinen aber – dasRecht, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, überflüssige und unnütze Ratschläge zuerteilen. Wohin man auch, als Mensch mit Charakter und mit Gefühl für die eigne Menschenwürde,den Fuß setzt – überall tritt man dem Verwandtschaftsprinzip zu nahe. Hat man die Absicht,zu heiraten – man frage um Rat; fragt man nicht – so ist man ein gefährlicher Schwärmeroder Freidenker; fragt man – so bekommt man eine Braut zugewiesen; heiratet [251] man sieund wird unglücklich – bekommt man zu hören: „Da hast du’s, Brüderchen, das kommt dabeiheraus, wenn man ohne die nötige Umsicht so wichtige Dinge unternimmt; ich habe dochgleich gesagt ...“ Heiratet man nach eigner Wahl – dann ist’s noch schlimmer. Was hat dieVerwandtschaft sonst noch für Rechte? Eine Unmenge! Diesen Herrn da zum Beispiel, der demNosdrew so ähnlich ist, würde man, wäre er einem fremd, nicht einmal in den Pferdestall lassenaus Sorge um die Unschuld der Pferde; aber er ist ein Verwandter – und man nimmt ihn auf,läßt ihn ins Wohnzimmer und ins Arbeitszimmer, und überall macht er einem als VerwandterSchande. Die Verwandtschaft liefert ein prächtiges Mittel zu Beschäftigung und Zerstreuung:gerät man einmal ins Unglück – schon bietet sich für die Verwandten eine wunderbare Gelegenheit,von allen Seiten herbeizureisen, ach und och zu rufen, den Kopf zu schütteln, zu schalten,zu walten, Ratschläge und gute Lehren zu erteilen, Vorwürfe zu machen und dann dieseNeuigkeit überallhin auszutragen und einen dabei hinter dem Rücken zu tadeln und zu schmähen– denn es ist ja bekannt: ein Mann im Unglück hat immer schuld, besonders in den Augenseiner Verwandten. Das alles ist für niemanden eine Neuigkeit, das Unglück ist nur, daß alleOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 149dies fühlen, aber nur wenige es zugeben: die gewohnheitsmäßige gutmütige, ehrliche Heucheleisiegt über die Vernunft. Es gibt Leute, die fähig sind, sich zu Tode zu kränken, wenn die riesigeFamilie der Verwandtschaft bei einem Besuch in der Hauptstadt nicht bei ihnen Wohnungnimmt; läßt sie sich aber bei ihnen nieder – so sind sie alles andere als froh; sie werden murrenund fluchen und jedermann unter der Hand ihr Leid klagen, aber vor den lieben Verwandtenwerden sie in Liebenswürdigkeit zerfließen und ihnen das Versprechen abnehmen – das nächsteMal wieder bei ihnen Wohnung zu nehmen und sie, im Namen der Verwandtschaft, ausdem eignen Haus zu verdrängen. Was bedeutet das? Durchaus nicht, daß die Verwandtschaftbei derartigen Leuten als Prinzip besteht, sondern nur, daß sie bei ihnen als Tatsache besteht:innerlich, überzeugungsgemäß, erkennt keiner von ihnen sie an, aber gewohnheitsmäßig, ohnenachzudenken und aus Heuchelei, erkennen alle sie an.Puschkin hat die Verwandtschaft dieser Art in der Gestalt gezeichnet, wie sie bei vielen besteht,wie sie wirklich ist, also zu Recht und der Wahrheit gemäß – und man ist ihm deshalb böse undhat [252] ihn unmoralisch genannt; man hätte ihn also, wenn er die Verwandtschaft bei gewissenLeuten so beschrieben hätte, wie sie nicht existiert, d. h. unrichtig und verlogen – gelobt.Das alles bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß nur Lüge und Unwahrheit moralischsind... da haben wir’s, wohin die gutmütige, ehrliche Heuchelei führt! Nein, Puschkin hat moralischgehandelt, wenn er als erster die Wahrheit sagte, denn es gehört ein edler Mut dazu, sichals erster zu entschließen, die Wahrheit zu sagen. Und wie viele solche Wahrheiten sind im„Onegin“ ausgesprochen! Viele von ihnen sind heute weder neu noch auch besonders tief; aberwenn Puschkin sie nicht vor zwanzig Jahren ausgesprochen hätte, wären sie heute sowohl neuals auch tief. Und darum ist es ein großes Verdienst Puschkins, daß er als erster diese veralteten,heute bereits seichten Wahrheiten ausgesprochen hat. Er hätte absolutere und tiefere Wahrheitenaussprechen können, aber dann hätte seinem Werk die Wahrhaftigkeit gefehlt: seineZeichnung des russischen Lebens wäre nicht dessen Ausdruck gewesen. Das Genie läuft seinerZeit nie voraus, sondern enträtselt stets nur seinen nicht für jedermann sichtbaren Sinn.Ein großer Teil des Publikums hat Onegin rundweg Seele und Herz abgesprochen, hat in ihmeinen von Natur kalten, trocknen und egoistischen Menschen gesehen. Man kann einen Menschennicht falscher und schiefer verstehen. Aber mehr noch: viele glaubten und glauben aufrichtig,daß der Dichter selbst in Onegin einen kalten Egoisten darstellen wollte. Das heißtnun schon – Augen haben und nicht sehen. Das Leben in der großen Welt hat in Onegin nichtdas Gefühl ertötet, sondern ihn nur für fruchtlose Leidenschaften und kleinliche Zerstreuungenerkalten lassen. Man erinnere sich an die Strophen, in denen der Dichter seine Bekanntschaftmit Onegin schildert:„Gleich ihm entflohn der Weltlust Plagen,Befreit aus hohler Formen Bann,Ward ich sein Freund in jenen Tagen.Er zog als Mensch mich lebhaft anMit seinem Hang zum Phantasieren,Den unnachahmlichen Manieren,Dem unbeirrbar scharfen Geist.Ich war verbittert, er vereist,Uns beide hatte schon das Leben,Der Leidenschaften Spiel genarrt,Uns beiden war das Herz erstarrt; [253]Wir hatten Jugend hingegeben,Und nur Fortunas blinden HohnUnd unsrer Mitwelt Haß zum Lohn.Wer lebt und urteilt, lernt beizeiten,Wie tief verächtlich Menschen sind;Wer fühlt, dem muß es Schmerz bereiten,OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 148Mehr noch: sie halten solch eine Frage für eine Sünde; und wenn sie sich dazu aufraffen würden,sie zu stellen, so würden sie sich selbst auslachen. Sie kommen gar nicht darauf, daß eshier nur über eins zu trauern gibt, nämlich über die triviale Komödie der gutmütigen Heuchelei,in der sie alle so eifrig und so ehrlich mitspielen.[250] Um nicht noch einmal zu ein und derselben Frage zurückzukehren, wollen wir hier einekleine Abschweifung machen. Um zu beweisen, eine wie wichtige Erscheinung nicht allein inästhetischer Hinsicht für unser Publikum Puschkins „Onegin“ war und wie neu und kühndamals in ihm die heute ältesten Gedanken und sogar schüchternen Halbgedanken schienen –wollen wir folgende Strophe anführen:„Hin, hin! Sind deine Vettern alle,Geneigter Leser, hübsch gesund?Dann hörst du auch in diesem FalleGewiß sehr gern durch ihren Mund,Was so Verwandtschaft meist bedeute:Verwandte sind die biedern Leute,Die man in HerzensüberflußVerehren, lieben, hätscheln mußUnd denen man aus reinstem TriebeZum Wiegenfeste, sehr gerührt,Selbst oder schriftlich gratuliert,Damit uns ihre Nächstenliebe(Gott soll sie segnen!) für den RestDes Jahres – ungeschoren läßt.“Wir erinnern uns, daß diese unschuldigen Strophen bei der Mehrzahl des Publikums nicht mehrOnegin, sondern dem Dichter selbst den Vorwurf der Amoralität eingetragen hat. Was ist hierdie Ursache, wenn nicht jene gutmütige, ehrliche Heuchelei, von der wir eben gesprochen haben?Brüder prozessieren mit Brüdern um ein Landgut und hegen füreinander oft einen solchabgründigen Haß, wie er zwischen Fremden undenkbar und nur unter Verwandten möglich ist.Das Recht der Verwandtschaft ist häufig nichts anderes als das Recht für den armen Verwandten– um eines Almosens willen vor dem Reichen auf dem Bauch zu rutschen; für den reichenVerwandten – den lästigen armen Schlucker zu verachten und ihn leer ausgehen zu lassen; fürgleich reiche – einander um den Erfolg im Leben zu beneiden; im allgemeinen aber – dasRecht, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, überflüssige und unnütze Ratschläge zuerteilen. Wohin man auch, als Mensch mit Charakter und mit Gefühl für die eigne Menschenwürde,den Fuß setzt – überall tritt man dem Verwandtschaftsprinzip zu nahe. Hat man die Absicht,zu heiraten – man frage um Rat; fragt man nicht – so ist man ein gefährlicher Schwärmeroder Freidenker; fragt man – so bekommt man eine Braut zugewiesen; heiratet [251] man sieund wird unglücklich – bekommt man zu hören: „Da hast du’s, Brüderchen, das kommt dabeiheraus, wenn man ohne die nötige Umsicht so wichtige Dinge unternimmt; ich habe dochgleich gesagt ...“ Heiratet man nach eigner Wahl – dann ist’s noch schlimmer. Was hat dieVerwandtschaft sonst noch für Rechte? Eine Unmenge! Diesen Herrn da zum Beispiel, der demNosdrew so ähnlich ist, würde man, wäre er einem fremd, nicht einmal in den Pferdestall lassenaus Sorge um die Unschuld der Pferde; aber er ist ein Verwandter – und man nimmt ihn auf,läßt ihn ins Wohnzimmer und ins Arbeitszimmer, und überall macht er einem als VerwandterSchande. Die Verwandtschaft liefert ein prächtiges Mittel zu Beschäftigung und Zerstreuung:gerät man einmal ins Unglück – schon bietet sich für die Verwandten eine wunderbare Gelegenheit,von allen Seiten herbeizureisen, ach und och zu rufen, den Kopf zu schütteln, zu schalten,zu walten, Ratschläge und gute Lehren zu erteilen, Vorwürfe zu machen und dann dieseNeuigkeit überallhin auszutragen und einen dabei hinter dem Rücken zu tadeln und zu schmähen– denn es ist ja bekannt: ein Mann im Unglück hat immer schuld, besonders in den Augenseiner Verwandten. Das alles ist für niemanden eine Neuigkeit, das Unglück ist nur, daß alleOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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