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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 147denke jedoch nicht, daß das von seiten des Neffen berechnete Heuchelei wäre (berechneteHeuchelei ist ein Laster aller Gesellschaftsschichten, der großen Welt ebenso wie aller anderen):nein, infolge einer wohltuenden Erschütterung des ganzen Nervensystems, die die Aussichtder nahen Erbschaft hervorrief, war unser Neffe ganz im Ernst gerührt und spürte eineglühende Liebe zu dem Onkelchen, obwohl nicht der Wille des Onkels, sondern das Gesetzihm das echt auf die Erbschaft gab. Die Heuchelei ist also gutmütig, offen und ehrlich. Aberdas Onkelchen sollte nur auf den Gedanken kommen, plötzlich, hast du nicht gesehen, gesundzu werden: wohin würde bei unserem Neffen die verwandtschaftliche Liebe verfliegen, undwie würde die falsche Trauer plötzlich echter Trauer weichen und der Schauspieler sich ineinen Menschen verwandeln! Wenden wir uns Onegin zu. Sein Onkel war ihm in jeder Hinsichtfremd. Und was konnte es Gemeinsames geben zwischen einem Onegin, dem es schon„... ganz egal,Ob alter, ob moderner Saal“,und einem ehrenwerten Gutsbesitzer, der in dörflicher Abgeschiedenheit vierzig Jahre lang„... Fliegen totgeschlagenUnd mit der Magd herumkrakeelt“?Man wird sagen: er war sein Wohltäter. Was heißt Wohltäter, wenn Onegin der gesetzlicheErbe seines Gutes war? Der Wohltäter ist hier nicht der Onkel, sondern das Gesetz, das Erbrecht.Was ist die Lage eines Menschen, der gezwungen ist, am Sterbelager eines ihm völligfremden, gleichgültigen Menschen die Rolle des betrübten, mitfühlenden zärtlichen Verwandtenzu spielen? Man wird sagen: wer zwingt ihn, diese erniedrigende Rolle zu spielen?Wieso – wer? Das Gefühl menschlicher Rücksichtnahme. Wenn wir es einmal aus irgendeinemGrunde einem Menschen, dessen Umgang für uns sowohl lästig wie langweilig ist, nichtabschlagen können, [249] ihn bei uns aufzunehmen – sind wir dann nicht verpflichtet, ihnhöflich und sogar freundlich zu behandeln, auch wenn wir ihn im Innern zum Teufel wünschen?Daß aus den Worten Onegins eine Art leichtsinniger Spott hervorlugt – ist nur einAnzeichen für Geist und Natürlichkeit, denn das Fehlen einer gemachten schwerfälligen Feierlichkeitin der Äußerung gewöhnlicher Alltagsbeziehungen ist ein Kennzeichen von Geist.Bei Menschen von Welt ist es sogar nicht einmal immer Geist, sondern häufiger einfach Lebensart,und es läßt sich nicht bestreiten, daß es eine sehr gescheite Lebensart ist. Bei Menschender mittleren Schichten dagegen gehört es zur Lebensart, sich bei jeder, nach ihrerMeinung einigermaßen wichtigen Gelegenheit durch ein Übermaß verschiedener tiefer Gefühlehervorzutun. Jedermann weiß, daß diese Frau da mit ihrem Mann wie Hund und Katzegelebt hat und daß sie von Herzen froh ist über seinen Tod, und sie selbst begreift sehr wohl,daß jedermann das weiß und daß sie niemandem etwas vormachen kann; aber deswegen wirdsie nur noch um so lauter oh und ach rufen, stöhnen und schluchzen und um so zudringlicheralle und jeden mit der Beschreibung der Tugenden des Verstorbenen, des Glücks, womit ersie beschenkt hat, und des Unheils, das mit seinem Tode über sie gekommen ist, quälen.Mehr noch: diese Frau wird bereit sein, das gleiche hundertmal dem Herrn von rechtschaffnemÄußern gegenüber zu wiederholen, den alle Welt als ihren Liebhaber kennt. Und wasgeschieht? – Sowohl dieser Herr von rechtschaffnem Äußern wie auch alle Verwandten,Freunde und Bekannten der tiefbekümmerten, untröstlichen Witwe hören sich das alles mitbetrübten und bekümmerten Mienen an – und wenn die einen vielleicht sich ins Fäustchenlachen, sind andere dafür von ganzer Seele gebrochen. Und das ist – wir wiederholen es –weder Dummheit noch Berechnung oder Heuchelei: es ist einfach ein Prinzip der Moral desKleinbürgers, des einfachen Volkes. Niemandem von diesen Menschen kommt es in denSinn, sich und andere zu fragen:„Ja, weswegen geben sie denn bloß an?“OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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