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13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 146oder Nicht-Welt. Nur in einem Fall können wir die große Welt nicht vertragen: nämlich wennsie uns von Verfassern geschildert wird, die sich bedeutend besser in den Sitten von Konditoreienund Beamten-Gutestuben auskennen müssen als in aristokratischen Salons. Noch eineEinschränkung sei mir erlaubt: wir verwechseln durchaus nicht Weltmannstum mit Aristokratismus,obwohl sie meistens zusammen anzutreffen sind. Von welcher Herkunft auch immerein Mensch sein, welche Überzeugungen er auch immer haben mag – weltmännisches Wesenwird ihn nicht schlechter machen, sondern nur besser. Man sagt: in der großen Welt wird dasLeben an Kleinigkeiten verschwendet, werden die heiligsten Gefühle der Berechnung unddem Anstand zum Opfer gebracht. Gewiß, aber wird etwa in den Mittelschichten der Gesellschaftdas Leben nur an erhabene Dinge verschwendet und werden Gefühl und Vernunftnicht auch der Berechnung und dem Anstand zum Opfer gebracht? O nein, tausendmal nein!Der ganze Unterschied zwischen den Mittelschichten und der obersten Schicht besteht darin,daß man in den ersteren kleinlicher, prätentiöser, eingebildeter, wichtigtuerischer, ehrgeiziger,gezwungener, scheinheiliger ist. Man sagt: das Leben der großen Welt hat viele übleSeiten. Gewiß, aber hat das Leben außerhalb ihrer allein nur gute Seiten? Man sagt: die großeWelt tötet die Eingebung, und Shakespeare und Schiller waren keine Weltleute. Gewiß, abersie waren auch weder Kaufleute noch Klein-[247]bürger – sie waren einfach Menschen, genauso, wie ja auch der Aristokrat und Weltmann Byron seine Inspiration vor allem dem verdankte,daß er Mensch war. Das ist der Grund, warum wir es nicht einigen unserer Literatennachtun wollen, die voller Voreingenommenheiten gegenüber der für sie schrecklichen großenUnbekannten – der großen Welt – stecken, und warum wir sehr froh sind, daß Puschkineinen Mann von Welt zum Helden seines Romans gewählt hat. Und was soll das Übles ansich haben? Die oberste Schicht der Gesellschaft war zu dieser Zeit schon auf dem Höhepunktihrer Entwicklung; daß er ein Weltmann war, hinderte zudem Onegin nicht daran, sichmit Lenski zu befreunden – diesem in den Augen der großen Welt höchst sonderbaren undkomischen Wesen. Gewiß, Onegin kam sich völlig fremd vor in der Gesellschaft der Larins;aber der Grund dafür war mehr seine Bildung als sein weltmännisches Wesen. Wir wollen esnicht bestreiten, die Larins sind sehr liebe Menschen, besonders in den Versen Puschkins;aber obgleich wir durchaus keine Leute von Welt sind, würden wir uns unter ihnen nichtrecht behaglich fühlen – um so mehr, als wir nicht das geringste Talent haben, uns in gesetzterRede über die Hundezucht, den Wein, die Heuernte und die Verwandtschaft zu unterhalten.Die oberste Schicht der Gesellschaft war zu dieser Zeit so weit getrennt von allen übrigenSchichten, daß die Menschen, die ihr nicht angehörten, über sie redeten, wie man vor Kolumbusin ganz Europa über die Antipoden und die Atlantis redete. Infolgedessen galt Onegin,gleich von den ersten Zeilen des Romans an, als ein amoralischer Mensch. Diese Meinungüber ihn ist auch jetzt noch nicht ganz geschwunden. Wir erinnern daran, welch flammendeEmpörung viele Leser darüber äußerten, daß Onegin sich über die Krankheit seines Onkelsfreut und mit Schrecken daran denkt, daß er den betrübten Verwandten wird spielen müssen –„Da seufzt man wohl und denkt für sich:Wann endlich holt der Teufel dich!“Viele Leute sind auch heute noch hiermit höchst unzufrieden. Daraus läßt sich erkennen, wasfür ein in jeder Hinsicht wichtiges Werk der „Onegin“ für das russische Publikum war undwie gut Puschkin daran getan hat, einen Weltmann zum Helden seines Romans zu machen.Zu den Besonderheiten der Menschen der großen Welt gehört, daß sie nicht heucheln, in keinerWeise, weder grob [248] und dumm noch gutmütig und ehrlich. Wenn irgendein armerBeamter sich plötzlich als Erben eines reichen alten Onkels sieht, der im Sterben liegt – mitwie vielen Tränen, mit welch devoter Zuvorkommenheit wird er sich nicht um das Onkelchenbemühen, obwohl dieses Onkelchen vielleicht sein Leben lang von dem Neffen nichts hatwissen, ihn nicht hat sehen wollen und sie nichts miteinander gemein gehabt haben. ManOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 147denke jedoch nicht, daß das von seiten des Neffen berechnete Heuchelei wäre (berechneteHeuchelei ist ein Laster aller Gesellschaftsschichten, der großen Welt ebenso wie aller anderen):nein, infolge einer wohltuenden Erschütterung des ganzen Nervensystems, die die Aussichtder nahen Erbschaft hervorrief, war unser Neffe ganz im Ernst gerührt und spürte eineglühende Liebe zu dem Onkelchen, obwohl nicht der Wille des Onkels, sondern das Gesetzihm das echt auf die Erbschaft gab. Die Heuchelei ist also gutmütig, offen und ehrlich. Aberdas Onkelchen sollte nur auf den Gedanken kommen, plötzlich, hast du nicht gesehen, gesundzu werden: wohin würde bei unserem Neffen die verwandtschaftliche Liebe verfliegen, undwie würde die falsche Trauer plötzlich echter Trauer weichen und der Schauspieler sich ineinen Menschen verwandeln! Wenden wir uns Onegin zu. Sein Onkel war ihm in jeder Hinsichtfremd. Und was konnte es Gemeinsames geben zwischen einem Onegin, dem es schon„... ganz egal,Ob alter, ob moderner Saal“,und einem ehrenwerten Gutsbesitzer, der in dörflicher Abgeschiedenheit vierzig Jahre lang„... Fliegen totgeschlagenUnd mit der Magd herumkrakeelt“?Man wird sagen: er war sein Wohltäter. Was heißt Wohltäter, wenn Onegin der gesetzlicheErbe seines Gutes war? Der Wohltäter ist hier nicht der Onkel, sondern das Gesetz, das Erbrecht.Was ist die Lage eines Menschen, der gezwungen ist, am Sterbelager eines ihm völligfremden, gleichgültigen Menschen die Rolle des betrübten, mitfühlenden zärtlichen Verwandtenzu spielen? Man wird sagen: wer zwingt ihn, diese erniedrigende Rolle zu spielen?Wieso – wer? Das Gefühl menschlicher Rücksichtnahme. Wenn wir es einmal aus irgendeinemGrunde einem Menschen, dessen Umgang für uns sowohl lästig wie langweilig ist, nichtabschlagen können, [249] ihn bei uns aufzunehmen – sind wir dann nicht verpflichtet, ihnhöflich und sogar freundlich zu behandeln, auch wenn wir ihn im Innern zum Teufel wünschen?Daß aus den Worten Onegins eine Art leichtsinniger Spott hervorlugt – ist nur einAnzeichen für Geist und Natürlichkeit, denn das Fehlen einer gemachten schwerfälligen Feierlichkeitin der Äußerung gewöhnlicher Alltagsbeziehungen ist ein Kennzeichen von Geist.Bei Menschen von Welt ist es sogar nicht einmal immer Geist, sondern häufiger einfach Lebensart,und es läßt sich nicht bestreiten, daß es eine sehr gescheite Lebensart ist. Bei Menschender mittleren Schichten dagegen gehört es zur Lebensart, sich bei jeder, nach ihrerMeinung einigermaßen wichtigen Gelegenheit durch ein Übermaß verschiedener tiefer Gefühlehervorzutun. Jedermann weiß, daß diese Frau da mit ihrem Mann wie Hund und Katzegelebt hat und daß sie von Herzen froh ist über seinen Tod, und sie selbst begreift sehr wohl,daß jedermann das weiß und daß sie niemandem etwas vormachen kann; aber deswegen wirdsie nur noch um so lauter oh und ach rufen, stöhnen und schluchzen und um so zudringlicheralle und jeden mit der Beschreibung der Tugenden des Verstorbenen, des Glücks, womit ersie beschenkt hat, und des Unheils, das mit seinem Tode über sie gekommen ist, quälen.Mehr noch: diese Frau wird bereit sein, das gleiche hundertmal dem Herrn von rechtschaffnemÄußern gegenüber zu wiederholen, den alle Welt als ihren Liebhaber kennt. Und wasgeschieht? – Sowohl dieser Herr von rechtschaffnem Äußern wie auch alle Verwandten,Freunde und Bekannten der tiefbekümmerten, untröstlichen Witwe hören sich das alles mitbetrübten und bekümmerten Mienen an – und wenn die einen vielleicht sich ins Fäustchenlachen, sind andere dafür von ganzer Seele gebrochen. Und das ist – wir wiederholen es –weder Dummheit noch Berechnung oder Heuchelei: es ist einfach ein Prinzip der Moral desKleinbürgers, des einfachen Volkes. Niemandem von diesen Menschen kommt es in denSinn, sich und andere zu fragen:„Ja, weswegen geben sie denn bloß an?“OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 146oder Nicht-Welt. Nur in einem Fall können wir die große Welt nicht vertragen: nämlich wennsie uns von Verfassern geschildert wird, die sich bedeutend besser in den Sitten von Konditoreienund Beamten-Gutestuben auskennen müssen als in aristokratischen Salons. Noch eineEinschränkung sei mir erlaubt: wir verwechseln durchaus nicht Weltmannstum mit Aristokratismus,obwohl sie meistens zusammen anzutreffen sind. Von welcher Herkunft auch immerein Mensch sein, welche Überzeugungen er auch immer haben mag – weltmännisches Wesenwird ihn nicht schlechter machen, sondern nur besser. Man sagt: in der großen Welt wird dasLeben an Kleinigkeiten verschwendet, werden die heiligsten Gefühle der Berechnung unddem Anstand zum Opfer gebracht. Gewiß, aber wird etwa in den Mittelschichten der Gesellschaftdas Leben nur an erhabene Dinge verschwendet und werden Gefühl und Vernunftnicht auch der Berechnung und dem Anstand zum Opfer gebracht? O nein, tausendmal nein!Der ganze Unterschied zwischen den Mittelschichten und der obersten Schicht besteht darin,daß man in den ersteren kleinlicher, prätentiöser, eingebildeter, wichtigtuerischer, ehrgeiziger,gezwungener, scheinheiliger ist. Man sagt: das Leben der großen Welt hat viele übleSeiten. Gewiß, aber hat das Leben außerhalb ihrer allein nur gute Seiten? Man sagt: die großeWelt tötet die Eingebung, und Shakespeare und Schiller waren keine Weltleute. Gewiß, abersie waren auch weder Kaufleute noch Klein-[247]bürger – sie waren einfach Menschen, genauso, wie ja auch der Aristokrat und Weltmann Byron seine Inspiration vor allem dem verdankte,daß er Mensch war. Das ist der Grund, warum wir es nicht einigen unserer Literatennachtun wollen, die voller Voreingenommenheiten gegenüber der für sie schrecklichen großenUnbekannten – der großen Welt – stecken, und warum wir sehr froh sind, daß Puschkineinen Mann von Welt zum Helden seines Romans gewählt hat. Und was soll das Übles ansich haben? Die oberste Schicht der Gesellschaft war zu dieser Zeit schon auf dem Höhepunktihrer Entwicklung; daß er ein Weltmann war, hinderte zudem Onegin nicht daran, sichmit Lenski zu befreunden – diesem in den Augen der großen Welt höchst sonderbaren undkomischen Wesen. Gewiß, Onegin kam sich völlig fremd vor in der Gesellschaft der Larins;aber der Grund dafür war mehr seine Bildung als sein weltmännisches Wesen. Wir wollen esnicht bestreiten, die Larins sind sehr liebe Menschen, besonders in den Versen Puschkins;aber obgleich wir durchaus keine Leute von Welt sind, würden wir uns unter ihnen nichtrecht behaglich fühlen – um so mehr, als wir nicht das geringste Talent haben, uns in gesetzterRede über die Hundezucht, den Wein, die Heuernte und die Verwandtschaft zu unterhalten.Die oberste Schicht der Gesellschaft war zu dieser Zeit so weit getrennt von allen übrigenSchichten, daß die Menschen, die ihr nicht angehörten, über sie redeten, wie man vor Kolumbusin ganz Europa über die Antipoden und die Atlantis redete. Infolgedessen galt Onegin,gleich von den ersten Zeilen des Romans an, als ein amoralischer Mensch. Diese Meinungüber ihn ist auch jetzt noch nicht ganz geschwunden. Wir erinnern daran, welch flammendeEmpörung viele Leser darüber äußerten, daß Onegin sich über die Krankheit seines Onkelsfreut und mit Schrecken daran denkt, daß er den betrübten Verwandten wird spielen müssen –„Da seufzt man wohl und denkt für sich:Wann endlich holt der Teufel dich!“Viele Leute sind auch heute noch hiermit höchst unzufrieden. Daraus läßt sich erkennen, wasfür ein in jeder Hinsicht wichtiges Werk der „Onegin“ für das russische Publikum war undwie gut Puschkin daran getan hat, einen Weltmann zum Helden seines Romans zu machen.Zu den Besonderheiten der Menschen der großen Welt gehört, daß sie nicht heucheln, in keinerWeise, weder grob [248] und dumm noch gutmütig und ehrlich. Wenn irgendein armerBeamter sich plötzlich als Erben eines reichen alten Onkels sieht, der im Sterben liegt – mitwie vielen Tränen, mit welch devoter Zuvorkommenheit wird er sich nicht um das Onkelchenbemühen, obwohl dieses Onkelchen vielleicht sein Leben lang von dem Neffen nichts hatwissen, ihn nicht hat sehen wollen und sie nichts miteinander gemein gehabt haben. ManOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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