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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 144Reform Peters des Großen mußte sich in Rußland eine nach ihrer Lebensweise von der Massedes Volkes völlig getrennte Gesellschaft ausbilden. Eine Ausnahmesituation allein jedochschafft noch keine Gesellschaft: dazu, daß sie [243] sich bilden konnte, bedurfte es besondererGrundlagen, die ihr die Existenz sicherten, und eines Gebildes, das ihr nicht nur äußerliche,sondern auch innerliche Einheit verlieh. Durch die „Schenkungsurkunde“ setzte KatharinaII. im Jahre 1785 die Rechte und die Pflichten des Adels fest. Dieser Umstand verlieh demalten Adel – dem einzigen Stand, der unter Katharina II. seine höchste Entwicklung erreichteund ein aufgeklärter, gebildeter Stand war – einen völlig neuen Charakter. Infolge der geistigsittlichenBewegung, die mit der Urkunde im Jahre 1785 einsetzte, begann neben dem Hochadeldie Klasse des mittleren Adels zu entstehen. Unter entstehen verstehen wir sich herausbilden.Unter der Herrschaft Alexanders des Gesegneten wuchs die Bedeutung dieses in jederHinsicht besten Standes ständig, und zwar deshalb, weil die Bildung mehr und mehr in alleWinkel der riesigen, mit gutsherrlichen Besitzungen übersäten Provinz eindrang. Auf dieseWeise formte sich eine Gesellschaft, für die edler Daseinsgenuß, als Merkmal eines entstehendengeistigen Lebens, bereits zum Bedürfnis wurde. Diese Gesellschaft gab sich bereitsnicht mehr bloß mit Jagd, Luxus und Gelagen, ja nicht allein mit Tanz und Kartenspiel zufrieden:sie sprach und las Französisch, auch Musik und Zeichnen fanden bei ihr als notwendigerBestandteil in den Erziehungsplan der Kinder Eingang. Dershawin, Fonwisin undBogdanowitsch – diese zu ihrer Zeit nur dem Hofe bekannten Dichter – wurden jetzt mehrund mehr auch in dieser entstehenden Gesellschaft bekannt. Was aber das Wichtigste ist – sielegte sich eine eigene Literatur zu, die bereits mehr leicht, lebendig, gesellschaftlich undweltmännisch als schwerfällig, schulmäßig und buchgelehrt war. Wenn Nowikow durch dieHerausgabe von Büchern und verschiedenen Zeitschriften das Gefallen an der Lektüre undden Buchhandel ausbreitete und dadurch eine Lesermasse schuf, so rief Karamsin durch seineSprachreform, durch die Tendenz, den Geist und die Form seiner Werke einen literarischenGeschmack ins Leben und schuf ein Publikum. Damit trat dann auch die Poesie als Elementin das Leben der neuen Gesellschaft ein. Die schönen Damen und die jungen Männer wallfahrtetenin Mengen zu Lisas Teich, um mit Tränen der Empfindsamkeit das Gedächtnis einesbetrüblichen Opfers von Leidenschaft und Verführung zu ehren. Die durch Verstand, Geschmack,Geist und Grazie ausgezeichneten Gedichte Dmitrijews hatten den gleichen Erfolgund den gleichen Einfluß wie die Prosa Karamsins. Ungeachtet ihrer komischen Seiten warendie Sentimen-[244]talität und Schwärmerei, die sie hervorbrachten, für die junge Gesellschaftein riesiger Schritt vorwärts. Die Tragödien Oserows gaben dieser Richtung noch mehr Kraftund Glanz. Die Krylowschen Fabeln wurden bereits längst nicht mehr nur von den Erwachsenengelesen, sondern auch von den Kindern auswendig gelernt. Bald trat ein Dichter-Jüngling auf, der in diese sentimentalische Literatur die romantischen Elemente tiefen Gefühls,phantastischer Träumereien und eines exzentrischen Strebens in den Bereich des Wunderbarenund Unbekannten hineintrug und der die russische Muse mit der Muse Deutschlandsund Englands bekannt und verwandt machte. Der Einfluß der Literatur auf die Gesellschaftwar viel bedeutender, als man sich das bei uns vorstellt: indem die Literatur Menschen verschiedenerStände durch die Bande des Geschmacks und das Streben nach edlem Lebensgenußeinander näherbrachte und befreundete, verwandelte sie den Stand in die Gesellschaft.Aber dessen ungeachtet unterliegt es keinem Zweifel, daß der Adelsstand sowohl der hauptsächlicheVertreter der Gesellschaft als auch die hauptsächliche, unmittelbare Quelle für dieBildung der ganzen Gesellschaft war. Die Erhöhung der Ausgaben für die Volksbildung, dieGründung von Universitäten, Gymnasien, Schulen ließ die Gesellschaft täglich und stündlichwachsen. Die Zeit zwischen 1812 und 1815 war für Rußland eine große Epoche. Wir meinendamit nicht nur die äußerliche Größe und den Glanz, die Rußland in dieser seiner großenEpoche gewann, sondern auch den erfolgreichen inneren Fortschritt auf dem Gebiet der Bürgertugendund der Bildung, der das Resultat dieser Epoche war. Man kann ohne ÜbertreibungOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 145sagen, daß Rußland seit dem Jahre 1812 bis zum heutigen Augenblick mehr durchlebt hatund weiter vorwärtsgeschritten ist als seit der Herrschaft Peters bis zum Jahre 1812. Einerseitserweckte das Jahr Zwölf, das ganz Rußland von einem Ende bis zum anderen erschütterte,seine schlummernden Kräfte und eröffnete ihm neue, bis dahin unbekannte Kraftquellen,fügte durch das Gefühl der gemeinsamen Gefahr die im Gefühl zersplitterter Interessen erstarrtenEinzelwillen zu einer einzigen riesigen Masse zusammen, erregte das Bewußtsein desVolkes und seinen Stolz und trug mit alldem dazu bei, eine Öffentlichkeit als den Beginneiner gesellschaftlichen Meinung ins Leben zu rufen; außerdem versetzte das Jahr Zwölf dererstarrenden Altväterzeit einen schweren Schlag: in der Folge verschwanden die nicht imStaatsdienst stehenden Adligen, die bis dahin ruhig auf ihren [245] Landsitzen zur Welt gekommenund gestorben waren, ohne je über die Grenze ihrer Güter hinausgefahren zu sein;die Klitsche mit ihrer Bärenhäuterei verschwand schnell mit den schwergetroffenen Überrestender alten Zeit. Andrerseits sah sich ganz Rußland in der Gestalt seiner unbesieglichenHeere auf seinem Wege der Siege und Triumphe durch Europa diesem von Angesicht zu Angesichtgegenüber. Alles das förderte stark das Heranwachsen und die Festigung der entstandenenGesellschaft. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts strebte die russische Literaturvon der Nachahmung vorwärts zur Originalität: Puschkin erschien. Er liebte den Stand,in dem der Fortschritt der russischen Gesellschaft fast ausschließlich zum Ausdruck kam unddem er selbst angehörte – und er entschloß sich, im „Onegin“ das Innenleben dieses Standesvorzuführen, und damit auch die Gesellschaft in dem Zustand, in dem sie sich in der von ihmgewählten Epoche, d. h. in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, befand. Auch hierkönnen wir uns nicht genug über die Schnelligkeit wundern, mit der die russische Gesellschaftvorwärtsstrebt: wir sehen den „Onegin“ als den Roman einer Zeit an, von der wir bereitsweit entfernt sind. Die Ideale, die Motive dieser Zeit sind uns bereits so fremd, liegen soaußerhalb der Ideale und der Motive unserer Zeit... Der „Held unserer Zeit“ war ein neuer„Onegin“: kaum vier Jahre sind vergangen – und Petschorin ist bereits kein zeitgenössischesIdeal mehr. Und in diesem Sinne ist es, daß wir gesagt haben, die Mängel des „Onegin“ seienzugleich auch seine größten Vorzüge: diese Mängel lassen sich in einem Wort ausdrücken –„altmodisch“; aber ist es etwa die Schuld des Dichters, daß in Rußland sich alles so schnellvorwärtsbewegt? Und ist es etwa nicht ein großes Verdienst seitens des Dichters, daß er dieWirklichkeit in einem bestimmten Augenblick des Lebens der Gesellschaft so wahrheitsgetreuzu erfassen vermochte? Wenn in „Onegin“ heute nichts veraltet oder hinter unserer Zeitzurückgeblieben erschiene – so wäre das ein deutliches Anzeichen dafür, daß dieses Poemnicht die Wahrheit enthält, daß in ihm nicht eine Gesellschaft, die wirklich existiert hat, sonderneine eingebildete dargestellt ist: was wäre es aber dann für ein Poem, und lohnte es derMühe, von ihm zu reden? ...Wir haben den Inhalt des „Onegin“ bereits berührt: wenden wir uns jetzt der Analyse derCharaktere der handelnden Personen dieses Romans zu. Ungeachtet dessen, daß der Romanden Namen [246] seines Helden trägt – gibt es in ihm nicht einen, sondern zwei Helden:Onegin und Tatjana. In beiden müssen wir Vertreter der beiden Geschlechter der russischenGesellschaft in dieser Epoche erblicken. Wenden wir uns dem ersten zu. Der Dichter hat sehrgut daran getan, sich einen Helden aus der obersten Schicht der Gesellschaft zu wählen.Onegin gehört durchaus nicht dem Hofadel an (schon deshalb nicht, weil die Zeit des Hofadelsnur das Jahrhundert Katharinas II. war); Onegin ist Weltmann. Wir wissen, daß unsreLiteraten die große Welt und ihre Menschen nicht lieben, obwohl sie versessen darauf sind,sie darzustellen. Was uns persönlich betrifft, so gehören wir durchaus nicht zur großen Weltund bewegen uns nicht in ihr; aber wir hegen ihr gegenüber keinerlei kleinbürgerliche Vorurteile.Wenn die große Welt von solchen Schriftstellern wie Puschkin, Gribojedow, Lermontow,Fürst Odojewski, Graf Sollogub dargestellt wird, lieben wir ihre literarischen Darstellungenebenso wie die mit Talent und Kenntnis durchgeführte Darstellung jeder anderen WeltOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 145sagen, daß Rußland seit dem Jahre 1812 bis zum heutigen Augenblick mehr durchlebt hatund weiter vorwärtsgeschritten ist als seit der Herrschaft Peters bis zum Jahre 1812. Einerseitserweckte das Jahr Zwölf, das ganz Rußland von einem Ende bis zum anderen erschütterte,seine schlummernden Kräfte und eröffnete ihm neue, bis dahin unbekannte Kraftquellen,fügte durch das Gefühl der gemeinsamen Gefahr die im Gefühl zersplitterter Interessen erstarrtenEinzelwillen zu einer einzigen riesigen Masse zusammen, erregte das Bewußtsein desVolkes und seinen Stolz und trug mit alldem dazu bei, eine Öffentlichkeit als den Beginneiner gesellschaftlichen Meinung ins Leben zu rufen; außerdem versetzte das Jahr Zwölf dererstarrenden Altväterzeit einen schweren Schlag: in der Folge verschwanden die nicht imStaatsdienst stehenden Adligen, die bis dahin ruhig auf ihren [245] Landsitzen zur Welt gekommenund gestorben waren, ohne je über die Grenze ihrer Güter hinausgefahren zu sein;die Klitsche mit ihrer Bärenhäuterei verschwand schnell mit den schwergetroffenen Überrestender alten Zeit. Andrerseits sah sich ganz Rußland in der Gestalt seiner unbesieglichenHeere auf seinem Wege der Siege und Triumphe durch Europa diesem von Angesicht zu Angesichtgegenüber. Alles das förderte stark das Heranwachsen und die Festigung der entstandenenGesellschaft. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts strebte die russische Literaturvon der Nachahmung vorwärts zur Originalität: Puschkin erschien. Er liebte den Stand,in dem der Fortschritt der russischen Gesellschaft fast ausschließlich zum Ausdruck kam unddem er selbst angehörte – und er entschloß sich, im „Onegin“ das Innenleben dieses Standesvorzuführen, und damit auch die Gesellschaft in dem Zustand, in dem sie sich in der von ihmgewählten Epoche, d. h. in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, befand. Auch hierkönnen wir uns nicht genug über die Schnelligkeit wundern, mit der die russische Gesellschaftvorwärtsstrebt: wir sehen den „Onegin“ als den Roman einer Zeit an, von der wir bereitsweit entfernt sind. Die Ideale, die Motive dieser Zeit sind uns bereits so fremd, liegen soaußerhalb der Ideale und der Motive unserer Zeit... Der „Held unserer Zeit“ war ein neuer„Onegin“: kaum vier Jahre sind vergangen – und Petschorin ist bereits kein zeitgenössischesIdeal mehr. Und in diesem Sinne ist es, daß wir gesagt haben, die Mängel des „Onegin“ seienzugleich auch seine größten Vorzüge: diese Mängel lassen sich in einem Wort ausdrücken –„altmodisch“; aber ist es etwa die Schuld des Dichters, daß in Rußland sich alles so schnellvorwärtsbewegt? Und ist es etwa nicht ein großes Verdienst seitens des Dichters, daß er dieWirklichkeit in einem bestimmten Augenblick des Lebens der Gesellschaft so wahrheitsgetreuzu erfassen vermochte? Wenn in „Onegin“ heute nichts veraltet oder hinter unserer Zeitzurückgeblieben erschiene – so wäre das ein deutliches Anzeichen dafür, daß dieses Poemnicht die Wahrheit enthält, daß in ihm nicht eine Gesellschaft, die wirklich existiert hat, sonderneine eingebildete dargestellt ist: was wäre es aber dann für ein Poem, und lohnte es derMühe, von ihm zu reden? ...Wir haben den Inhalt des „Onegin“ bereits berührt: wenden wir uns jetzt der Analyse derCharaktere der handelnden Personen dieses Romans zu. Ungeachtet dessen, daß der Romanden Namen [246] seines Helden trägt – gibt es in ihm nicht einen, sondern zwei Helden:Onegin und Tatjana. In beiden müssen wir Vertreter der beiden Geschlechter der russischenGesellschaft in dieser Epoche erblicken. Wenden wir uns dem ersten zu. Der Dichter hat sehrgut daran getan, sich einen Helden aus der obersten Schicht der Gesellschaft zu wählen.Onegin gehört durchaus nicht dem Hofadel an (schon deshalb nicht, weil die Zeit des Hofadelsnur das Jahrhundert Katharinas II. war); Onegin ist Weltmann. Wir wissen, daß unsreLiteraten die große Welt und ihre Menschen nicht lieben, obwohl sie versessen darauf sind,sie darzustellen. Was uns persönlich betrifft, so gehören wir durchaus nicht zur großen Weltund bewegen uns nicht in ihr; aber wir hegen ihr gegenüber keinerlei kleinbürgerliche Vorurteile.Wenn die große Welt von solchen Schriftstellern wie Puschkin, Gribojedow, Lermontow,Fürst Odojewski, Graf Sollogub dargestellt wird, lieben wir ihre literarischen Darstellungenebenso wie die mit Talent und Kenntnis durchgeführte Darstellung jeder anderen WeltOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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