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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 142zum einfachen Volke gehört, das heißt, der Champagner trinkt und nicht Wodka, im Frackeinhergeht und nicht im grauen Langrock, müsse bald als Franzose, bald als Spanier oder alsEngländer dargestellt werden. Einige unserer Literaten haben zwar die Fähigkeit, mehr oderweniger getreue Porträts nachzubilden, es fehlt ihnen jedoch die Fähigkeit, die Gesichter, diesie porträtieren, im richtigen Lichte zu sehen: ist es dann verwunderlich, wenn ihre Porträtskeinerlei Ähn-[240]lichkeit mit den Originalen haben und daß man sich beim Lesen ihrerRomane, Erzählungen und Dramen unwillkürlich fragt:„Wen wollen sie hier porträtieren?Wes Reden zeigen und Manieren?Und kommt das alles wirklich vor,Dann ist es nichts für unser Ohr!“ 5Talente dieser Art sind schlechte Denker; die Phantasie hat sich bei ihnen auf Kosten desVerstandes entwickelt. Sie begreifen nicht, daß das Geheimnis des Nationalgeistes eines jedenVolkes nicht in seiner Kleidung und seiner Kochkunst liegt, sondern in seiner – sozusagen– Manier, die Dinge zu verstehen. Um irgendeine Gesellschaft richtig darzustellen, mußman zuerst ihr Wesen, ihre Besonderheit begriffen haben – und das läßt sich nicht andersmachen, als daß man jene Summe von Regeln, die die Gesellschaft befolgt, in ihrer Tatsächlichkeitstudiert und philosophisch ergründet. Jedes Volk besitzt zweierlei Philosophie: dieeine ist gelehrt, in Büchern festgelegt, für Feierlichkeiten und Festtage bestimmt, die andereist alltäglich, hausbacken und dient dem Umgang. Oft stehen diese beiden Philosophien miteinanderin mehr oder weniger enger Beziehung; wer eine Gesellschaft darstellen will, dermuß beide kennenlernen, aber das Studium der zweiten ist besonders notwendig. Genauebenso muß, wer irgendein Volk kennenlernen will, dieses vor allem in seinem häuslichenund Familienleben studieren. Welche Bedeutung kann schon, sollte man meinen, zum Beispielsolchen Wörtern wie авось und живёт 6 zukommen, und dennoch sind sie sehr bedeutungsvoll,und ohne ihre Bedeutung zu verstehen, kann man manchmal den einen oder denanderen Roman nicht verstehen, geschweige denn selbst einen Roman schreiben. Und gradedie tiefe Kenntnis ebendieser Umgangsphilosophie hat den „Onegin“ und „Verstand schafftLeiden“ zu originellen, rein russischen Schöpfungen gemacht.Der Inhalt des „Onegin“ ist jedermann so wohlbekannt, daß keinerlei Notwendigkeit besteht,ihn ausführlich darzulegen. Um zu der ihm zugrunde liegenden Idee vorzustoßen, wollen wirihn jedoch in den folgenden wenigen Worten erzählen. Ein in ländlicher Abgeschiedenheiterzogenes, schwärmerisches junges Mädchen verliebt sich in einen jungen Petersburger – umin der heutigen Sprache zu reden – Salonlöwen, der die Langeweile der großen Welt gegendie Langeweile seines Landsitzes vertauscht hat. Sie entschließt sich, [241] ihm einen naiveLeidenschaft atmenden Brief zu schreiben; er antwortet ihr mündlich, daß er sie nicht liebenkann und daß er sich nicht für die „Seligkeit des Familienlebens“ geschaffen fühlt. Dann wirdOnegin aus einem nichtigen Anlaß von dem Bräutigam der Schwester unserer verliebten Heldinzum Duell herausgefordert und tötet ihn. Der Tod Lenskis trennt Tatjana für lange Zeitvon Onegin. In ihren Jugendträumen enttäuscht, beugt das arme Mädchen sich den Tränenund Bitten ihrer alten Mutter und heiratet einen General, denn es war ihr gleichgültig, wenimmer sie heiratete, wenn sie schon einmal nicht unverheiratet bleiben durfte. Onegin begegnetTatjana in Petersburg wieder und erkennt sie kaum: so hat sie sich verändert, so wenigÄhnlichkeit ist in ihr zwischen dem einfachen ländlichen Mädchen und der glänzenden PetersburgerDame übriggeblieben. In Onegin flammt Leidenschaft für Tatjana auf; er schreibtihr einen Brief, und diesmal ist sie es, die ihm mündlich antwortet, daß sie ihn zwar liebe,5 Aus dem Gedicht „Der Zeitungsverleger, der Leser und der Schriftsteller“ von Lermontow.6 Die Worte „авосъ“ und „живёт“ sind russische Redewendungen, die sich der genauen Übersetzung entziehen;sie bedeuten etwa: „vielleicht“, „am Ende“ und „es geht so an“, „sei’s drum“.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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