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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 141Neugestalter war. Ungeachtet aller ziemlich bedeutenden Mängel, die die Komödie Gribojedowsbesitzt, war sie, als das Werk einer starken Begabung, eines tiefen, selbständigen Geistes,die erste russische Komödie, in der es nichts von Nachahmung, keine unwahren Motiveund unnatürlichen Farben gab, sondern in der sowohl das Ganze als auch die Einzelheiten,sowohl das Sujet als auch die Charaktere, die Leidenschaften, die Handlungen, die Meinungenund die Sprache – kurz, alles durch und durch von der tiefen Wahrheit der russischenWirklichkeit durchtränkt war. Und was gar die Verse betrifft, in denen „Verstand schafft Leiden“geschrieben ist – so hat Gribojedow in jeder Hinsicht für lange Zeit jede Möglichkeiteiner russischen Komödie in Versen totgeschlagen. Es bedarf einer genialen Begabung, umdas von Gribojedow begonnene Werk fortzuführen: das Schwert des Achill konnten nur einAjax und ein Odysseus schwingen. Das gleiche kann man auch in bezug auf den „Onegin“sagen, obgleich ihm übrigens einige ihm zwar durchaus nicht ebenbürtige, aber doch bemerkenswerteVersuche ihr Erscheinen verdanken, während „Verstand schafft Leiden“ bis heutein unserer Literatur wie die Herkulessäulen dasteht, hinter die zu blicken noch niemandemgelungen ist. Ein beispielloser Vorgang: ein Theaterstück, das das ganze lesekundige Rußlandnach handschriftlichen Exemplaren auswendig lernte, mehr als zehn Jahre, bevor es gedruckterschien! Gribojedows Verse verwandelten sich in Sprichwörter und Redensarten;seine Komödie wurde zur unversieglichen Quelle für Nutzanwendungen auf die Ereignissedes Alltagslebens, zur unerschöpflichen Fundgrube für Epigramme! Und obgleich sich keinerleidirekter Einfluß seitens der Sprache und selbst des Verses der Fabeln Krylows aufSprache und Vers der Komödie Gribojedows nachweisen läßt, ist er auch nicht ganz zu leugnen:so greift in der organisch-historischen Entwicklung der Literatur alles ineinander, isteins mit dem anderen verbunden! Die Fabeln Chemnitzers und Dmitrijews verhalten sich zuden Fabeln Krylows, wie einfach begabt geschriebene Werke sich zu genialen Schöpfungenverhalten – dennoch verdankt Krylow Chemnitzer und Dmitrijew vieles. So ist es auch mitGribojedow: er ist nicht bei Krylow in die Schule gegangen, hat ihn nicht nachgeahmt: er hatsich nur seiner Errungenschaften bedient, um [239] selbst auf seinem eignen Weg weiterzugehen.Aber hätte es in der russischen Literatur keinen Krylow gegeben, so wäre der VersGribojedows nicht so frei, so fließend und ungezwungen originell gewesen, kurz, hätte keinenso ungeheuer weiten Schritt vorwärts getan. Aber nicht hierauf allein beschränkt sich dieTat Gribojedows: zusammen mit dem „Onegin“ Puschkins war sein „Verstand schafft Leiden“das erste Beispiel einer poetischen Darstellung der russischen Wirklichkeit im weitestenSinn des Wortes. In dieser Hinsicht haben diese beiden Werke das Fundament für die kommendeLiteratur gelegt, waren die Schule, aus der sowohl Lermontow als auch Gogol hervorgegangensind. Ohne den „Onegin“ wäre „Ein Held unserer Zeit“ unmöglich gewesen, ebensowie ohne „Onegin“ und „Verstand schafft Leiden“ Gogol sich nicht dazu vorbereitet gefühlthätte, die russische Wirklichkeit mit solcher Tiefe und Wahrheit darzustellen. Die verlogeneManier in der Darstellung der russischen Wirklichkeit, die vor „Onegin“ und „Verstandschafft Leiden“ bestanden hatte, ist auch jetzt noch nicht aus der russischen Literaturverschwunden. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man sich nur der Mühe zu unterziehen,die neuen Dramen anzusehen oder sie zu lesen, die im russischen Theater der beidenHauptstädte gespielt werden. Das ist nichts anderes als ein verzerrtes französisches Leben,das sich eigenherrlich russisches Leben nennt; das sind entstellte französische Charaktere, diesich russische Namen zugelegt haben. Auf die russische Erzählungskunst hat Gogol starkenEinfluß ausgeübt, seine Komödien jedoch blieben Einzelerscheinungen wie „Verstand schafftLeiden“. Das will sagen: die eigne Heimatwelt, das, was wir vor Augen haben, was unsumgibt, getreu darzustellen, scheint fast schwieriger zu sein, als das Fremde darzustellen. DieUrsache für diese Schwierigkeit liegt darin, daß man die Form bei uns stets für das Wesennimmt und ein modisches Kostüm – für Europäismus; mit andern Worten: darin, daß manden Volksgeist mit dem Geist des einfachen Volkes verwechselt und glaubt, jeder, der nichtOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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